Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
etwas tun konnte.«
»Ein Mörder geht um«, schrien nun einige und steckten andere an. Panik brach aus, die Leute stoben auseinander, andere umarmten sich beschützend, wieder andere hoben die Arme flehend gen Himmel und sackten auf die Knie. Der Hof von Tiberias versank im Nu im Chaos.
Der feine Sandstaub schwebte wie ein hellgraues Gewebe über dem Talkessel und saugte die Strahlen der Nachmittagssonne auf. Ein diffuses Licht lag über dem Steinbruch, das mit jedem Schritt gen Mitte schwächer zu werden schien. Die Luft stand und reizte die Kehle. Wie unwirkliche Wesen hackten die Arbeiter monoton auf den Stein ein, es schien, als seien sie nur für diese spezielle Bewegung geboren worden. Den Fremden, der an ihnen vorüberging, beachteten sie mit keinem Blick.
So, dachte Kallisthenes, könnte auch der Eingang zum Hades aussehen.
Ihm war der Anblick von Steinbrüchen nicht neu. Er war Architekt, nannte sich selbst jedoch Baumeister der Kunstsinnigen, um nicht mit den Scharen von Dilettanten verwechselt zu werden, die sich seit den Zeiten des Augustus wie Gülle über das Imperium ergossen. Der Bedarf an Bauten war immens, denn das Reich blühte und wuchs und verlangte nach immer mehr und größeren Straßen, Foren und Tempeln. Wohlhabende Kaufleute versuchten überall, die alteingesessenen Würdenträger zu übertreffen, und ließen sich protzige Stadtvillen errichten.
Kallisthenes wollte mit solchen Auftraggebern nichts zu tun haben. Alles Vordergründige war ihm zuwider. Die Häuser, die er baute, waren für Menschen mit Sinn für Details gemacht, Menschen, denen beim Anblick eines Frieses noch der Atem stockte, die ein Relief eine Stunde lang betrachten konnten und sich in die Schönheit des Steins verliebten.
Der Stein. Für die meisten Architekten war er schlicht Material. Er musste fest und glatt sein und durfte keine Risse haben, schon waren die Herren Dilettanten zufrieden. Für Kallisthenes jedoch war der Stein Ausgangspunkt und zugleich Ziel jeder Schönheit. Der Stein sollte die Harmonie der Friese und Reliefs betonen und diese wiederum den Charakter des Steins. Kallisthenes schätzte den Marmor von Thessalonike, der zerknittertem Pergament glich, den von Ariston, der grau wie Nebel war, sowie das fast vollkommene Schwarz des Marmors von Lebadeia. Von allen Steinbrüchen aber liebte er diesen bei Ephesos am meisten, wo das Gestein milchig weiße und dunkelgraue Töne aufwies, die ineinander flossen. Er blickte auf die Felswand, und es war, als stünde er vor einem mächtigen Wasserfall.
»Möchtest du dich umsehen?«, fragte ihn der römische Verwalter, der wie ein Hund hinter ihm herlief.
»Natürlich«, erwiderte Kallisthenes ein wenig abfällig und blickte auf den zwei Köpfe kleineren Mann herab. »Darum bin ich schließlich hier.«
Er schlenderte zwischen den mannshohen Felsblöcken wie durch einen Garten. Gelegentlich blieb er stehen, nahm ein faustgroßes Stück auf, befühlte es und roch daran, als sei es eine taufrische Rosenblüte. Nicht nur die Farbe und Beschaffenheit waren ihm wichtig, sondern auch der Geruch nach Erde, Kalk, Salz oder Meerwasser, der jedem Gestein eigen war. Der mineralische Duft warmer Steine war ihm am liebsten.
»Ich benötige siebzig Platten. Dann brauche ich wie viele von diesen Steinen?«, fragte er sich selbst und murmelte allerlei Zahlen vor sich hin.
»Sicher für eine Therme«, riet der Verwalter.
»Selbstverständlich nicht «, widersprach Kallisthenes entsetzt. Das war wieder typisch, dachte er. Nur weil das Gestein fließende Farben hatte, kauften die Architekten es haufenweise für römische Thermalbäder. Nicht mal im Traum würde ihm so etwas Triviales einfallen. »Es ist für einen Gesellschaftsraum.«
»Gesellschaftsraum?«
»Der Grieche trifft sich dort zum Gespräch mit Freunden«, erklärte er ungeduldig.
Der Verwalter blickte ihn ratlos an, dann fiel es ihm ein: »Oh, ich verstehe. Du nimmst unseren Marmor, damit die Gespräche fließen. Beim Bacchus, eine witzige Idee.«
Kallisthenes verdrehte die Augen, wandte sich kopfschüttelnd ab und stand – vor einem jungen Mann, der an einen Pfahl gebunden war. Er schreckte zurück.
Dergleichen passierte ihm immer wieder in den Steinbrüchen. So sehr er auch aufpasste, hinter irgendeinem Steinklotz oder in irgendeinem Winkel stieß er früher oder später auf Delinquenten. Kein schöner Anblick. Der Kopf des Jünglings hing leblos herunter, und an den Stellen, wo er an den Pfahl gebunden
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