Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
war, leuchtete aufgescheuertes Fleisch dunkelrot unter einer dünnen staubigen Kruste, die den ganzen Körper überzog.
Kallisthenes schloss betroffen die Augen. Sklaverei und Fronarbeit waren auch im alten, versunkenen Hellas der Philosophen, Künstler und Staatsmänner nicht unbekannt gewesen, das wusste er, aber so waren diese Menschen nicht behandelt worden wie heute durch die Römer.
»Er versuchte zu fliehen«, erklärte der Verwalter. »Gar nicht beachten, in zwei oder drei Tagen ist er ohnehin tot.«
Kallisthenes wollte sich eben abwenden, als er zufällig zu Boden blickte und eine Lederrolle sah, aus der einige Pergamente hervorlugten. Neugierig zog er den Inhalt heraus und rollte die Papiere auf.
Ein Laut des Erstaunens entschlüpfte ihm. Er hatte mit allem gerechnet, mit sentimentalen Briefen, pornographischen Zeichnungen oder schlüpfrigen Versen, mit denen sich die einfachen Menschen hier unterhalten mochten, nicht jedoch mit architektonischen Entwürfen. Die meisten gezeichneten Gebäude waren zwar im plumpen, von Kallisthenes verachteten römischen Stil erbaut, sie waren jedoch exzellent wiedergegeben, bis ins Detail. Wer immer diese Zeichnungen gefertigt hatte, besaß ein feines Auge und den Blick für die Eigenheit eines Bauwerks.
»Der Grieche dort trug das bei sich, als wir ihn festnahmen«, berichtete der Verwalter. »Einer meiner Männer hat es ihm abgenommen und zu Boden geworfen. Es ist doch nichts wert, oder?«
Die Rolle nicht, dachte Kallisthenes, der Mann schon. Er hatte Talent, und er war Grieche, ein Landsmann. Er gehörte nicht in einen Steinbruch unter Sklaven und Verbrecher. Die Römer waren zu oberflächlich, um so etwas zu erkennen.
Kallisthenes sah die Gier in den Augen des Verwalters blitzen.
»Ich kaufe die Rolle und den Mann.«
»Also ich weiß nicht …«, murmelte der Verwalter und rieb sich in offensichtlich gespielter Skepsis das Kinn. »Wir sind nur befugt, an Gladiatorenschulen zu verkaufen.«
»Zwölf denari «, eröffnete Kallisthenes.
»Fünfzehn. Nur für den Mann.«
»Er ist halbtot. Dreizehn. Und noch einmal fünf für die Rolle.«
Der Verwalter leckte sich die Lippen. »Abgemacht. Es ist immer wieder ein Vergnügen, Geschäfte mit dir zu machen. Soll ich den Kerl verpacken?«
Er lachte, während er sich die Münzen einzeln auf die Hand legen ließ, und er lachte immer noch, als er zwei Wachen herbeirief, die den ohnmächtigen Timon vom Pfahl lösten und Huckepack zum Pferd des Kallisthenes trugen.
Einen Tag später, etwa zur gleichen Stunde, schaukelte die Sänfte Salomes in Begleitung einer kleinen Eskorte in den Steinbruch.
Die Reise war anstrengend verlaufen, denn die römischen Straßen waren zwar im Vergleich zu jüdischen Sandpisten wetterfest, aber holprig. Erschwerend kam hinzu, dass Salome kaum Pausen bewilligt hatte. Mit jedem Schritt, den sie Ephesos näher kam, wuchs ihre Ungeduld. Ihr Herz schlug schneller, ihr Appetit schwand, und wenn Berenike ihr nicht unermüdlich Wasser aufgedrängt hätte, wäre sie wohl halb vertrocknet. Die Landschaften und Städte, durch die sie kamen, nahm Salome kaum wahr, obwohl es die erste größere Reise ihres Lebens war. Weder die altehrwürdige Phönizierstadt Berytus mit ihren prächtigen Gärten noch das verruchte Antiochia machten sie neugierig, weder die mit Olivenhainen bedeckten Südhänge des Taurusgebirges noch die von duftender Myrte überwucherten Täler begeisterten sie.
In den letzten Stunden konnte sie Timons Nähe fast körperlich spüren, und nun, im Steinbruch, konnten auch schmerzende Knochen sie nicht zurückhalten, durch den Talkessel zu streifen. Ihr Blick zuckte über die Felswände und Geröllmassen und betrachtete jeden Arbeiter für den Bruchteil eines Lidschlages.
»Wie kann ich dienen, Herrin?« Berenike hatte zwischenzeitlich den Verwalter herbeigeholt.
»Ich suche einen jungen Mann«, erläuterte Salome. »Blond, schlank, so groß wie ich und etwa in meinem Alter. Ein Grieche. Er soll sich seit vier Jahren hier befinden.«
Die Augen des Verwalters verengten sich. »Wieso? Was ist mit ihm?«
»Er ist zu Unrecht verurteilt worden und auf der Stelle freizulassen, wie dir dieses Dokument beweist.«
Der Verwalter öffnete nervös die Schriftrolle mit der Begnadigung durch Pontius Pilatus, verbrachte viel Zeit damit, sie zu lesen, kaute auf seiner Lippe und sagte schließlich: »Er ist nicht hier. Nicht mehr, jedenfalls.«
»Also war er hier?«, drängte Salome.
»Schon.
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