Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Tatsache, dass sie nicht bloß in der aramäischen Sprache des Volkes und in der hebräischen Zeremoniensprache der heiligen Schriften abgefasst waren, sondern auch in Griechisch und Römisch. Noch ein Sakrileg also! Herodes hatte ganze Arbeit geleistet, um der Priesterschaft, den Noblen und dem Volk ein letztes Mal zu zeigen, dass er im Innersten kein Jude, sondern Römer war. Wirklich ein letztes Mal? Akme korrigierte sich, denn ihr fiel Herodes’ Testament ein, das außer dem Hohepriester bisher nur ihr bekannt war.
Der Sarg wurde unter Psalmgesängen in das Grab hinabgelassen und mit Erde bedeckt. Einer nach dem anderen zog daran vorbei, und damit auch an Akme, die als Einzige beharrlich neben ihrem toten Bruder verharrte. Ein Rabban , ein Gelehrter der Schrift Gottes, betete unermüdlich das qaddisch zur Heiligung Gottes: »Erhöht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er erneuern wird …«
Es dauerte den ganzen Nachmittag, bis alle dem König die letzte Ehre erwiesen hatten und auch der Rabban gegangen war. Oben warteten bereits die Handwerker, um das Grabmal mit Mörtel und schweren Türen zu verschließen. Neben Akme blieben noch Archelaos, Antipas und Philipp in der Grabkammer. Theudion war nicht erschienen. An seiner statt stellte Herodias sich mutig in den engsten Kreis der Familie, ihre Tochter an der Hand. Alle schwiegen. Irgendwann, eine ganze Weile war vergangen, verließen die Söhne des Herodes nacheinander die Gruft, Antipas jedoch nicht, ohne Herodias einen langen Blick zuzuwerfen. So blieben – entgegen jeden Brauchs – drei Frauen in der Gruft zurück, von denen keine die Tochter des Toten war.
Akme blickte der jungen Salome einen Moment in die Augen. Seit einigen Jahren schon beobachtete sie das Mädchen. Das Horoskop des Sternendeuters anlässlich von Salomes Geburt hatte sie neugierig gemacht: Sie ist zu Großem geboren, sie wird Unruhe erzeugen … Ähnliches war ihr selbst vorhergesagt worden. Und tatsächlich fand sie in Salomes Augen eine Neugier, die ihr bekannt vorkam. Als sie selbst so alt wie Salome war, hatte sie auf die gleiche Weise Menschen und ihre Verhaltensweisen beobachtet. Sie hatte ebenso unscheinbar wie dieses Mädchen ausgesehen und war ebenso wenig zur Kenntnis genommen worden. Wer hätte damals gedacht, dass sie heute eine bedeutende Rolle innehaben würde, eine Rolle, die noch nicht zu Ende gespielt war. Das Beste würde erst noch kommen.
»Geht jetzt«, forderte sie Herodias auf. »Ich habe meinem Bruder noch etwas zu sagen.«
Die sechzigjährige Akme wartete, bis die Schritte verhallt waren und sie mit den Mosaiken, einem Dutzend Fackeln und dem Toten allein war. So tief im Berg war es kalt und feucht, durch den Gang zog ein Wind, und die Kammer lud keineswegs zum Verweilen ein, aber Akme setzte sich dennoch auf den Boden und strich über die Erde, die Herodes bedeckte. Ihr Blick hatte alle Zärtlichkeit, mit der sie Herodes früher bedacht hatte, verloren. »Mein armer, dummer Bruder«, flüsterte sie in die Kälte und Düsternis. »Neun Frauen hast du gehabt und vierzehn Kinder gezeugt, und nun stehst du doch ohne einen König da, der diesen Namen verdient. Du hast alle Söhne, die mir ebenbürtig waren, umgebracht, und mir nur Kinder, Narren, Katzbuckler und einfältige Trotzköpfe als Gegner hinterlassen. Glaubst du wirklich, dass einer von ihnen lange regiert?« Sie lächelte die Erde zwischen ihren Fingern an. »Ich sage dir etwas, Herodes, das dich staunen lassen wird. Am Ende werde ich herrschen. Eine Frau auf dem tausendjährigen Thron Davids.«
Ein erleichtertes Raunen ging durch die Menge, als Akme endlich die Stufen der Gruft heraufkam. Man hatte in der weiträumigen Säulenhalle gewartet, die wie ein Pfropfen auf den Gipfel des Hügels gebaut war und Menschen wie auch Hunderten von Eidechsen ein wenig Schutz vor der Hitze bot. Vielen Leuten waren die Beine schwer geworden, und sie wünschten sich nichts mehr, als endlich wieder in ihren Sänften, auf Pferden oder in Streitwagen nach Jerusalem zurückzukehren.
Auch Archelaos wollte so schnell wie möglich diesen Ort verlassen, wenn auch aus anderen Gründen. Im Palast wartete Joazar auf ihn, mit dem versiegelten Testament des Herodes in Händen. Dann würde Archelaos endlich Gewissheit bekommen, dass er und keiner der anderen die Führerschaft des Volkes Israel erhielte. Nun, Theudion hatte sich gewiss selbst um diese Möglichkeit gebracht, aber Antipas hatte sich stets
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