Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
schreiben und die letzten Jahre genießen.
Aber noch verteilte der Philosoph seine Ratschläge. Nikolaos tätschelte ihm die Schulter, wie er es damals am ersten Unterrichtstag gemacht hatte. »Herodes ist wie alle Herodianer vom Imperator Augustus in die julische Familie aufgenommen worden, wie du weißt.«
Archelaos machte ein ratloses Gesicht. »Was hat denn das damit zu tun?«
»Kaiser Augustus ist das Oberhaupt der julischen Familie, und sein Imperium ist die Schutzmacht Judäas. Ich kann nicht glauben, dass dein Vater so ungeschickt war, das Testament nicht unter einen höflichen Vorbehalt zu stellen, nämlich unter den Vorbehalt der Einwilligung des Imperators. Wenn du jetzt schon den Reif nimmst, beleidigst du Augustus.«
Nicht in hundert Jahren wäre Archelaos auf diese Bedeutung gekommen. »Wie wahr«, lachte er. »Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können.«
Nikolaos nickte gelassen mit dem Kopf. Er würde noch viel, sehr viel Arbeit mit seinem Schüler haben. Ein König hatte es nie leicht, denn er hatte Neider, Gegner und – viel schlimmer – Beamte, die ihm das Leben vergällen konnten. Doch wenn er sich außerdem mit drei Brüdern und einem übermächtigen Imperium auseinander setzen musste, erforderte das einen geschickten Geist und einen starken Willen.
Es schien ihm nicht so, als verfüge Archelaos darüber. Damals in Rom verbrachte der Junge kaum Zeit mit den Denkaufgaben, die er ihm auftrug. An den besten Tagen verfolgte Archelaos den Unterricht, indem er den Kopf auf die Faust stützte und sich hier und da eine Notiz machte. An den schlechtesten Tagen erschien er schlicht nicht. Die meiste Zeit verbrachte er im Kreis von so genannten Freunden, die gackernd wie Hühner durch die Stadt zogen und bei denen abzusehen war, dass sie später ihre Berufung und Lebensaufgabe darin sahen, auf nächtlichen Feiern als Gast aufzutauchen. Hier in Jerusalem lernte Archelaos ein wenig konzentrierter, denn er musste sich irgendwie von der Düsterkeit des Hofes ablenken. Trotzdem war er einfältig geblieben. Man konnte nur hoffen, dass der junge König – sollte er es denn tatsächlich werden – an der schwierigen Aufgabe wachsen würde, die vor ihm lag.
Was Akme anging, so war sie eine unberechenbare Größe. Würde sie sich fortan solcher Einmischungen enthalten oder weiterhin versuchen, Archelaos in schwierige Situationen zu bringen? Nikolaos nahm sich vor, sie gut im Auge zu behalten.
Archelaos ging auf seine Tante zu, doch anstatt sich den Reif von ihr aufsetzen zu lassen, nahm er ihn ihr ab und brachte ihn zu seinen Brüdern. »Gemeinsam«, rief er, »bringen wir das Symbol unseres Königtums in die Heilige Stadt, wo es der Hohepriester aufbewahren wird, bis das Testament verlesen und seinem Sinn nach erfüllt ist.«
Dann gingen alle endlich zu ihren Sänften und Gespannen. Herodias schloss sich auf dem Weg dorthin Akme an. Akme schien von dem Verlauf der Dinge unbeeindruckt zu sein, nichts deutete darauf hin, dass sie über Archelaos’ diplomatische Einmischung verärgert war. Sie plauderten über die staubige Rückreise nach Jerusalem und die baldige Ausgestaltung des Leichenschmauses, der beim Tod eines Angehörigen für Familie, Freunde und Volk traditionell gegeben wurde.
Doch Salome hatte eine andere Sicht der Dinge. Sie lief neben ihrer Großtante Akme her und sah, wie diese ihre Finger derart in die Handballen presste, dass sogar ein wenig Blut daraus floss.
»Judäa, Idumäa und Samaria, Galiläa, Peräa und Moab, Golan, Trachon, Dan und Basan«, zählte der greise Hohepriester die Ländereien auf, aus denen das Königreich des Herodes bestand. Zu dem ursprünglichen Stammland des Volkes Israel waren unter Herodes einige eroberte oder vom Imperator Augustus geschenkte Gebiete hinzugekommen, so dass das Königreich im Norden die römische Provinz Syrien und im Süden die Provinz Ägypten berührte. Im Westen durch das von den Römern so genannte mare nostrum natürlich begrenzt, erstreckte sich das Land nach Osten weit über den Jordan hinaus bis in die Wüste. Fruchtbare Gegenden befanden sich in diesem Reich. Auf den Hochebenen weideten zahllose Rinder und Schafe auf dunkelgrünen, feuchten Wiesen, die Hänge der flachen Berge waren übersät mit Rebstöcken, und in den Tälern gediehen Dattelpalmen und Feigenbäume. Dort, wo das Land flach war, wuchs der Weizen kräftig und hoch.
An Wasser mangelte es fast nirgendwo. Der Jordan mit seinen Nebenflüssen und der See
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