Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Genezareth versorgten Peräa, Samaria, Galiläa und Golan, also den gesamten Norden und Osten. Aus dem Gebirge Juda im Süden sprudelten unzählige Quellen, so als könne das Gestein die Wasser kaum noch zurückhalten. Sie sammelten sich in den Tälern, von wo aus sie fast ganz Idumäa und Judäa bewässerten und fruchtbar machten. Und die warmen, feuchten Winde vom Meer schufen aus den Küstenstreifen ein Paradies aus Zedernwäldern, Hainen und Obstfeldern. Gewiss, es gab auch einige Wüstenflecken im Königreich, doch selbst die wurden für Handelswege genutzt, die mit Brunnen gesäumt waren.
Der Ruf des Gelobten Landes reichte bis nach Rom, wie zumindest jene der Brüder wussten, die dort einige Jahre gelebt hatten. Der gesamte Osten war dort hoch angesehen, denn er besaß eine Vergangenheit und Würde, der Italien nichts entgegensetzen konnte. Das syrische Antiochia und das ägyptische Alexandria galten als die zweite und dritte Stadt des Imperiums, und das Land zwischen ihnen erblühte unter der Strahlkraft dieser beiden Sonnen. Einige Römer faszinierte allein schon die Lage Syriens und Judäas als Tor zu weit entfernten, geheimnisvollen Gegenden, deren Namen man nicht kannte und die daher nur halb zu existieren schienen wie Götterburgen. Andere gierten nach den wohlriechenden Gewürzen und Früchten, nach Zimt und Zitronen, wieder andere verfielen der Anziehungskraft seiner mystischen Religionen, der ekstatischen Kulte oder den ernsten philosophischen Lehren. Alles Schöne und Geheimnisvolle schien vom Osten zu kommen, und vielleicht gerade weil man diesen Osten in Rom nicht ganz verstand, erlag man dort völlig seinen Reizen.
So jedenfalls dachte das römische Volk. Für den Imperator, und da durfte sich niemand etwas vormachen, war der Osten zum einen ein Wirtschaftszentrum, zum anderen ein Bollwerk gegen die feindlichen Perser.
Obwohl die Söhne des Herodes den Umfang des Königreiches genau kannten, beugten sie sich dennoch über die Karte und folgten dem Finger des Hohepriesters. Denn heute ging es um die Aufteilung in Fürstentümer, und jeden Einzelnen interessierte, womit sein Vater ihn für eine üble Kindheit und Jugend entschädigte.
Salome saß mit ihrer Mutter, mit ihrer Großtante Akme und einigen anderen Frauen und Kindern ein wenig abseits. Auch ihre Freundin Berenike war dabei, weiterhin waren noch zwei Männer anwesend. Der eine, so wusste Salome, war Nikolaos. Sie konnte ihn sich gut merken, weil seine alten Augen so scharfsinnig zwischen dem weißen Bart und den Kopfhaaren hervorleuchteten. Den anderen Mann hatte sie noch nie gesehen. Er wirkte kriegerisch, trug eine fremdartige Uniform, sprach kein Wort und schien ihr doch – sie wusste auch nicht, warum – der wichtigste Mann im Raum zu sein.
»Archelaos wird dem Willen des Herodes nach König des ganzen Landes«, erklärte der Hohepriester und legte seine Hand auf die Karte. »Judäa, Samaria und Idumäa beherrscht er direkt, das übrige Land über die eingesetzten Fürsten, Antipas und Philipp, die zu gleichen Teilen Land erhalten.«
»Und ich?«, fragte Theudion und suchte nach einem Flecken auf der Karte, der noch nicht vergeben war. Doch der alte Mann schien ihn nicht gehört zu haben, denn er sprach einfach weiter.
»Seiner edlen Schwester vermacht Herodes das Gebiet um die Städte Jebna und Ashdod an der südlichen Küste.« Das war eine Überraschung. Eine Frau als Herrscherin eines Teilgebietes von Judäa hatte es noch nicht gegeben, und auch wenn sie keinen Fürstentitel erhielt und Archelaos ihr außerdem als König vorstand, so konnte sie sich doch einen eigenen Hof einrichten. Akme stand nun auf und gesellte sich lächelnd zu ihren Neffen, während Theudion einige Schritte zurückwich.
»Und ich?«, wiederholte er seine Frage, ohne mehr Beachtung als vorhin zu erzielen.
»Dazu wird Geld verteilt. Die edle Akme erhält vierzig talente , Augustus tausend talente , dessen Gemahlin Livia und dessen Stiefsohn Tiberius je fünfhundert talente . Die männlichen und weiblichen Enkel des Herodes, die Neffen, Nichten, Großneffen und Großnichten erhalten jeweils fünf talente .«
Theudions Augen wurden größer, sein Blick schien zwischen Schmerz und Zorn zu schwanken. »Und ich?«, fragte er ein drittes Mal. Nun wandte der Hohepriester sich ihm zu.
»Ach ja, Theudion, du erhältst – ein talent .«
Theudion wich entsetzt zurück. Er setzte sich neben Herodias, die ihn jedoch weder berührte noch ansah. »Das kann
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