Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Tetrarchen, der beiden höchsten jüdischen Souveräne, zu bitten, war ungewöhnlich. Philipps Vorschlag verwirrte alle.
Doch Salomes Überraschung folgte schnell die Freude. Bis morgen Abend würde sich gewiss eine Gelegenheit finden, mit Timon zu sprechen, und so huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie sagte: »Was für eine großartige Idee, Philipp. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.«
Am nächsten Morgen konnte Salome von einem Fenster aus beobachten, wie Timon zu einem Spaziergang aufbrach. Der kleine Palast von Bethsaida erhob sich nicht am Ufer des Sees Genezareth, sondern zur Landseite hin am Rande der Stadt. Jetzt, im Frühherbst, zog der Duft des goldenen, frisch geschnittenen Grases über die Ebene, und das Zirpen der Grillen drang wie ein ständiges Wispern bis in die Säle der Residenz, so als wolle es die Menschen in die Natur locken.
Für Salome begann die schönste Zeit des Jahres, denn sie liebte Tage wie diese, in denen ein warmer Mittag einem kühlen, feuchten Morgen folgte. Die Hochsommer in Basan waren dagegen oft unerträglich heiß, und manchmal hielt sie es nicht mehr aus und floh vor der Hitze an Ashdods Küste. Die Winter wiederum waren zwar mild, in den letzten Jahren jedoch ausgesprochen regenreich. Die Bauern freuten sich, denn ihre Weiden grünten mit jedem Frühling mehr, und die Feigen hingen schwer wie Pampelmusen an den Bäumen. Doch für Reisen oder Ausflüge waren die Wintermonate kislev, tevet und shvat völlig ungeeignet. Salome verbrachte dann scheinbar endlose Stunden mit dem Studium von Schriften, dem Ausarbeiten neuer Edikte für Ashdod oder einem gelegentlichen Gespräch mit Philipp. Denn einen Hofstaat gab es in Philipps Tetrarchie nicht, sah man einmal von den Beamten ab. Seine Sparsamkeit – mehr noch, seine Menschenscheu – verbot das.
Sie beschloss, die günstige Gelegenheit zu nutzen und Timon zu folgen. Einen kurzen Moment lang musste sie über sich selbst schmunzeln, denn sie kam sich wie ein kleines Mädchen vor, das seiner Jugendliebe hinterherlief. Und gewissermaßen verhielt es sich auch so. Als sie Timon verloren hatte, war sie tatsächlich noch ein Mädchen gewesen, und heute wollte sie nahtlos an diesem Punkt anknüpfen.
Sie warf sich rasch eine strahlend weiße stola über ihr Gewand und huschte nach draußen. Als sie das Palasttor passierte, konnte sie sofort sehen, in welche Richtung Timon spaziert war, denn das Land war fast eben und seine Silhouette weithin sichtbar. Er hatte den gleichen Weg eingeschlagen, den Salome meist ging; dieser führte zu einem kleinen Olivenhain, der windgeschützt in einer Senke gedieh.
Als sie dort ankam, fand sie ihn auf einem Felsen sitzend. Der morgendliche Orangenglanz der Sonne überflutete den Hain, und ganze Schwärme junger Vögel hüpften aufgeregt von Ast zu Ast und übten sich im Gesang. Dieses friedliche Bild erinnerte Salome an ihre Sehnsüchte. So viele Jahre schon hätten sie gemeinsam auf Steinen sitzen können, die warmen Strahlen auf dem Rücken spürend, den Tag genießend, jeden Tag.
Sie näherte sich leise von hinten, bis sie kaum einen Schritt von Timon entfernt war. Ihr Blick ruhte auf ihm. Muskeln zeichneten sich durch seine enge Tunika ab, und ihre Hand war versucht, in Timons schulterlanges Haar zu greifen, zuckte aber wieder zurück. Lieber genoss sie noch eine Weile dieses friedliche Bild und gab sich ganz der Freude hin, Timon endlich wieder so nahe zu sein wie früher.
Schließlich trat sie absichtlich auf einen Zweig, der knackend unter ihren Füßen brach. Timon schreckte auf, und zum ersten Mal nach zehn Jahren sahen Salome und Timon einander wieder an. Seine Verblüffung war so groß, dass er seinen Blick zunächst nicht mehr von ihr losreißen konnte. Stumm standen sie sich gegenüber, zum Greifen nahe. Die alte Erregung in ihr, die sie erstmals am Strand von Ashdod gespürt hatte, erwachte zu neuem Leben. Sie schluckte, und ihr Atem ging stoßweise.
»Timon«, sprach sie seinen Namen mit zärtlicher Stimme aus, worauf er, wie am Tag zuvor bei der Audienz, zu Boden blickte. Doch auch er war aufgeregt.
»Warum weichst du mir aus?«, fragte sie sanft und streckte ihre Hand nach seinen Wangen aus. Er ließ es geschehen und sah sie wieder an.
»Du … du bist nicht mehr die, die ich früher kannte«, antwortete er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin noch dieselbe. Als ich hörte, dass du noch lebst, war ich wahnsinnig vor Glück«, gestand sie offen. Für
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