Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Seile, und an vielen Stellen bildeten Narben winzige Inseln auf seiner gebräunten Haut, Spuren der gnadenlosen Arbeit im Steinbruch. Doch das alles bedeutete Salome nichts. Er war da. Nach Tausenden von Träumen, durch die er gegeistert war, stand Timon wahrhaftig vor ihr.
Mit klopfendem Herzen richtete sie ihren Blick auf Timons Gesicht, um sich in der Sprache der Augen mit ihm zu verständigen. Wie lang hatte sie auf diesen Moment gewartet!
Die letzten Wochen vor seinem Eintreffen waren kaum auszuhalten gewesen. Nachts hatte sie nicht einschlafen können und war unruhig auf und ab gelaufen, am Tage blieb sie in sich gekehrt und nahm kaum noch an den Geschehnissen ihrer Umwelt teil. Alle ihre Gedanken waren auf diesen einen Moment gerichtet, in dem sie Timon wieder in die Augen sehen durfte.
Doch er wich ihr aus, selbst als er vom sofer vorgestellt wurde. Ja, seine Verbeugung war vollkommen, doch was kümmerten sie seine Manieren? Sie wollte ihn mit ihren Augen streicheln, Erregung tauschen, wenn auch nur stumm. Wenigstens das musste ihr doch vergönnt sein. Warum sah er sie nicht an?
»Salome?«
Sie schreckte auf, als Philipp ihren Namen nannte. Offenbar war sie so vertieft gewesen, dass sie nicht mitbekommen hatte, wie von ihr gesprochen wurde.
Philipp sah sie nicht anders an als sonst, aber sie spürte, dass er eine Veränderung an ihr bemerkt hatte.
»Ich habe Kallisthenes eben erzählt, dass der Bau Philippis deine Idee war.«
Sie versuchte, sich zusammenzureißen. »Das stimmt.« Ihre Stimme klang belegt, wie sie selber feststellte. Sie bemühte sich, heller zu sprechen, als sie erklärte: »Niemand traut unserem Land zu, dass wir Großes zustande bringen. Alle glauben, die schöpferische Kraft Basans beschränkt sich auf die Zucht von Rindern und das Graben von Wasserlöchern. Wir wollen die Zweifler eines Besseren belehren.«
Kallisthenes nickte. »Welche Vorstellungen, die Stadt betreffend, habt ihr, wenn ich fragen darf?«
»Keine«, antwortete Philipp. »Nur etwas Besonderes soll sie werden, ein Schmelztiegel der Völker. So wünscht es meine Frau, und ich mit ihr. Wer diese Stadt bauen will, benötigt neue Ideen.«
Kallisthenes zog die Augenbrauen hoch. »Das versteht sich ja wohl von selbst«, kommentierte er leicht gekränkt. »Einen griechischen Einschlag werden wir jedoch nicht vermeiden können, wenn es etwas Besonderes werden soll. Mir fällt wahrhaftig kein Baustil ein, der die Schönheit des Steins besser zum Ausdruck bringen könnte.«
»Das soll mir recht sein. Viele jüdische Städte sind von griechisch inspirierten Bauten geprägt, Jericho, Hebron, Lydda, auch Jerusalem. Sogar der dortige Tempel des Einen Gottes, das erhabene Zentrum unseres Glaubens, ähnelt einer Akropolis . Es gibt keine Stadt in Judäa ohne griechische Bauwerke, ausgenommen vielleicht Tiberias, die Hauptstadt meines Bruders. Sie wirkt römisch.«
Kallisthenes verzog das Gesicht wie nach einer bitteren Medizin. »Diese Gefahr besteht bei uns nicht, Fürst. Nicht wahr, Timon?«
»Nein«, antwortete er wortkarg, ohne seinen Blick zu heben.
Obwohl Salome ihn kaum aus den Augen ließ, hatte sie noch keinen Kontakt zu ihm herstellen können. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, denn die beiden Architekten würden bereits morgen früh weiter nach Norden reisen, zur Quelle des Jordan, wo Philippi entstehen sollte. Sie überlegte schon, Timon eine Frage zu stellen, ihr fiel jedoch in der Aufregung keine passende ein. Dutzende Varianten, warum er sich so verhielt, gingen ihr durch den Kopf. Glaubte er, sie habe ihn damals im Stich gelassen? Schämte er sich noch wegen des Mordanschlags auf ihre Tante? Dachte er vielleicht, sie liebe ihn nicht mehr, weil sie verheiratet war? Oder – liebte er sie nicht mehr? Diese Vorstellung überfiel sie derart heftig, dass sie kurz aufstöhnte.
Philipp sah erneut zu ihr und wandte sich dann wieder Kallisthenes zu. »Da ich gerade von meinem Bruder sprach – er wird morgen hier in Bethsaida zu politischen Gesprächen erwartet. Wir geben ein abendliches Gastmahl, zu dem wir auch dich und Timon bitten.«
Diese Einladung versetzte alle in Erstaunen, auch Salome. Es war in Judäa zwar üblich, Gäste persönlich und reichhaltig zu bewirten, auch solche, die fremd waren oder im Rang weit unter den Gastgebern standen. Besonders die se’uda mafseket , die Abschiedsessen für Familienmitglieder, Freunde und Bedienstete, fielen üppig und herzlich aus. Doch zwei Architekten zum Treffen der
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