Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
diente.
»Nein«, antwortete sie. »Ich habe nur gerade an Ashdod gedacht.«
»Ich auch«, gab er zu und ließ – so wie sie – offen, welche Gefühle er damit verband.
»Ungestört sind wir hier leider nicht«, sagte sie mit einem Blick auf die stinkende Latrine.
Er lächelte. »Komm hier entlang.«
Er führte sie durch einen Felsspalt, der sich wie eine Schlange durch das Massiv wand und so schmal war, dass sie hintereinander gehen mussten. Links und rechts schienen die steinernen Wände bis in den Himmel hineinzuragen. Nach einigen Minuten jedoch öffnete sich der Spalt und gab den Blick auf ein weites, herrliches Tal mit Hügeln frei. Zwischen herbstfarbenen Bäumen erstreckte sich ein schmales Flussbett bis in den blassblauen Horizont. Hier war die Quelle des Hule, eines der Flüsse, die sich weiter südlich zum Jordan, dem heiligen Strom, vereinigten. Die Quelle allerdings war in diesem heißen Sommer versiegt. Unter einer Decke rostiger Blätter verbargen sich nur glitschige, mit Algen überzogene Steine und gelegentliche Pfützen, wie Salome schnell feststellte, als sie Timon durch die Senke folgte.
Einer kindlichen Neigung nachgebend, balancierte sie über einige Steine und ließ sich dabei von Timon an der Hand führen. Sie hatten die Senke fast durchquert, als sie das Gleichgewicht verlor – sie wusste hinterher auch nicht mehr, ob absichtlich oder nicht – und sich in Timons Arme fallen lassen wollte. Doch der sprang einen Schritt zur Seite, und sie fiel in eine Pfütze. Lautes Gelächter erfüllte den Wald um sie herum.
»Sehr witzig«, kommentierte sie. »Du hättest mich gerne auffangen dürfen.«
Er schmunzelte. »Glaubst du, ich weiß nicht, dass du den Sturz nur gespielt hast, um mir in die Arme zu fallen.«
»So etwas Albernes würde ich nie tun.«
»Und der Tanz? Das war doch dasselbe. Du bist ein raffiniertes Luder.«
»Ein was?«, rief sie.
»Ein Luder, oder galanter ausgedrückt, eine Verführerin.«
»Frechheit«, stieß sie aus.
»Wahrheit nenne ich es. Also, was ist nun? Möchtest du hier sitzen bleiben, Hochwohlgeborene, oder soll ich dir aufhelfen?«
Er streckte ihr seine Hand entgegen, aber sie griff in den Schlamm und schleuderte ihn in sein Gesicht. Gleich danach erschrak sie über ihre Tat nicht weniger als er.
»Oh weh«, rief sie und rappelte sich auf, während er versuchte, den Matsch aus seinem Gesicht zu kratzen.
»Ich will hoffen, dieses Oh weh soll heißen, dass es dir Leid tut.«
Sie nickte. »Und wie«, sagte sie mit ernster Miene. »Eigentlich wollte ich deine andere Gesichtshälfte treffen.« Ehe er sich’s versah, warf sie ihm eine weitere Portion Schlamm ins Gesicht und rannte lachend davon.
»Du Biest«, rief er. Es kostete ihn nicht viel Mühe, sie einzuholen. Er packte sie von hinten um die Taille und hielt sie fest. Unentschlossen, was sie als Nächstes tun sollten, verharrten sie eine Weile in dieser Position, keiner rührte sich, beide atmeten schwer.
»Du bist unverschämter geworden«, flüsterte er endlich. »Und noch wunderbarer als früher.«
Dieser Satz war es, der endlich die Grenzen der Zurückhaltung durchbrach. Nie war ihre Liebe über einfache Zärtlichkeiten hinausgegangen, immer war sie von Unerfahrenheit, Stolz oder sogar Furcht kontrolliert worden. Jetzt drehte Salome sich zu Timon um und küsste ihn – und er erwiderte den Kuss. Eine unendliche Gewissheit überflutete sie, dass sie diesen Mann liebte und er sie. Alles, was sie je füreinander gefühlt hatten, hatte überdauert, und nichts konnte sie zurückhalten, nicht die vergangenen viertausend Tage und Nächte, nicht die Schmerzen und Enttäuschungen ihres Lebens, keine Titel, keine Eheschwüre, keine Vorsicht, keine einzige jener Schranken, die von irgendeinem Gott oder den Menschen geschaffen worden waren, um die Liebe zu verhindern.
Stumm nahm er sie an der Hand und führte sie aus der Senke in den angrenzenden Hain aus jungen biegsamen Bäumen. Sie schritten über die weiche Decke des Laubs bis zu einer Stelle, die ein Teppich sattgrünen Mooses bedeckte. Er streifte seine Tunika ab und trocknete damit sein Gesicht. Seine Augen verengten sich vor Glück und Verlangen, als ihr Gewand an ihrem Körper zu Boden fiel.
Er schluckte. »In den letzten Wochen bin ich fast jeden Tag hierher gekommen und habe mir vorgestellt, dass du auch da wärst.«
Ihr Blick glitt über seine nahezu unbehaarte Brust, nur über seinem Schurz zeigte sich flaumiges Haar. »Nun bin ich da«,
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