Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
geändert zu haben. Mit dieser Überraschung musste sie erst fertig werden. Sie überlegte, was unverdächtiger wirkte, sofort zu ihm zu gehen und von ihrem Abstecher zu berichten oder bis morgen damit zu warten. Es war schon spät, die Sonne war eben über dem Jordantal untergegangen. Es wäre völlig normal, sich erst auszuruhen, nachdem sie stundenlang in einer schaukelnden Sänfte gelegen hatte, doch Philipp könnte vielleicht meinen, sie weiche ihm aus. Andererseits könnte ihre Erklärung wie eine Rechtfertigung wirken.
Nachdem ihre Überlegungen eine Weile wie bei einem Ballspiel hin und her gesprungen waren, entschied sie, dass es besser war, ihren Mann zu begrüßen. Aber ihre Laune hatte sich erheblich verschlechtert, denn die Situation ärgerte sie. Vor fast genau vierundzwanzig Stunden lag sie noch eng an Timons warmen Körper geschmiegt mitten in einem Wald, auf Moos und Blätter gebettet. Kalt war es gewesen, doch sie hatte nicht gefroren. Niemals war ein Augenblick erfüllter gewesen, niemals hatte sie sich reicher gefühlt. Die Ungewissheit, die Einsamkeit, die Unruhe – fast alles, was ihr Handeln bis gestern bestimmte, war binnen einer Stunde hinweggefegt und durch Geborgenheit, Kraft und Zuversicht ersetzt worden, so dass der Körper, der den Palast von Bethsaida betrat, nicht mehr derselbe war, der ihn verlassen hatte. Bei jedem Schritt, den sie tat, spürte sie neben ihrem eigenen Körper einen zweiten, eine zusätzliche Kraftquelle. Sie war nicht länger allein. Timon war bei ihr.
Nur dieser seltsame, bohrende Ärger war geblieben, ja sogar noch stärker geworden. Philipp war ein Hindernis. Seinetwegen lag sie heute und morgen und an jedem einzelnen Tag der kommenden Wochen nicht wieder und wieder mit Timon in jenem Wald, seinetwegen musste sie eine Rolle spielen, einer Gauklerin gleich, und seinetwegen konnte sie ihr Glück nicht in die Welt hinausschreien, sondern musste es in sich einschließen. Philipp hätte sie beleidigen, schlagen oder auspeitschen lassen können, sie hätte nicht mehr Wut über ihn empfunden als so, wo er arglos und zuvorkommend war, alles in allem kein schlechter Mann. Ihr wäre es lieber, Philipp würde ein Tyrann sein, ähnlich wie Antipas, dann müsste sie sich wenigstens nicht so schuldig fühlen, weil sie ihn fortwünschte.
Die Situation, in der sie ihn antraf, war charakteristisch für ihre widerstreitenden Gefühle. Philipp stand mit gesenktem Kopf, die Hände vor dem Gesicht, im Gebetsraum der Synagoge, mitten unter den jüdischen Bediensteten und Beamten des Palastes, die das maariv , das Abendgebet, absolvierten, und weder durch die Kleidung noch die Haltung hob er sich von den anderen ab. Er trug noch immer jenen schlichten Gebetsmantel, den sie ihm zur Hochzeit geschenkt hatte, obwohl der schon leicht abgenutzt war. Er klammerte sich gerne an alte Sachen, und er legte keinen Wert auf die äußerlichen Zeichen seiner Fürstenwürde, auf Pomp und Erhabenheit. Das Volk schätzte ihn dafür – ebenso wie sie. Sie entdeckte in solchen Gesten einen melancholischen Menschen und guten Charakter. Umso erstaunlicher war, dass Philipp keine Wärme zu schenken vermochte. Sein Äußeres – die kalten Augen, die ausdruckslose Stimme, das häufige Schweigen – war eine Wand, die Gefühle einsperrte. Genau genommen, dachte Salome bitter, waren sie beide sich derzeit ähnlicher denn je, denn auch sie musste ihre Empfindungen unterdrücken, wenn auch unfreiwillig.
Er bemerkte nicht, wie sie die Synagoge betrat und zwischen den Dienern, die Gebetsformeln vor sich hin murmelten, einen Platz einige Schritte hinter ihm einnahm. Sie beobachtete Philipp. Seine Frömmigkeit, das wusste sie, war aufrichtig. Er sprach fast nie vom Glauben und vom Herrn, obwohl beides fest in ihm verankert war. Für seine nichtjüdischen Untertanen tat er genauso viel wie für die jüdischen, und er lehnte jede Form von übertriebener Religiosität oder gar die Überwachung von religiösen Vorschriften ab, dennoch achtete er in seinem persönlichen Leben auf die Gebote der thora und die Riten. Nie hatte er eines der drei täglichen Gebete ausfallen lassen, doch nie hatte er sie aufgefordert, es ihm gleich zu tun. Mit diesem sanftmütigen Verhalten stand er für die eine Hälfte des jüdischen Volkes, das still und in sich gekehrt seinen Glauben lebte, ohne die Sünder oder Andersdenkende strafen zu wollen. Die andere Hälfte des Volkes hingegen wurde lauter und lauter.
Einer nach dem anderen
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