Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
»Gerne.«
»Die Unterkünfte der Arbeiter sind schlecht gebaut, und ihre Verpflegung ist dürftig. Sie müssen elf Stunden am Tag schuften, und die Wärter treiben sie unnötig hart an. Ich kann verstehen, dass die meisten von ihnen Sklaven sein müssen, denn eine ganze Stadt mit bezahlten Arbeitern zu bauen ist finanziell nicht möglich. Sie sollten aber anständig behandelt werden. Leider lässt der Kommandierende der Wachen überhaupt nicht mit sich reden und …«
Ein leichter Stoß von Kallisthenes’ Ellbogen unterbrach Timons Redefluss, der einen zunehmend anklagenden Tonfall bekommen hatte.
Salome ging einen Schritt auf ihn zu. »Ich vermute, dass du in dieser Frage besonders kompetent bist«, verschlüsselte sie ihr Wissen um seine Vergangenheit als Gefangener im Steinbruch, denn ein Offizier, der Schreiber und zwei Frauen ihres Gefolges waren anwesend und hörten jedes Wort mit. Noch musste sie vorsichtig sein. »Daher übergebe ich dir hiermit das Kommando über die Sklaven und die Wachen. Behebe die Missstände, von denen du gesprochen hast.«
Diese Lösung des Problems verblüffte Timon, allerdings nicht nur ihn.
»Das geht nicht«, wandte der Offizier ein. »Ein Ungläubiger darf keine Befehlsgewalt über jüdische Soldaten bekommen. Kein aufrechter Gläubiger würde das hinnehmen.«
»Ach wirklich«, sagte Salome und blickte den Mann scharf an. »Du auch nicht?«
»Niemals. So etwas wäre schändlich.«
»Dann erkläre mir doch bitte, weshalb du noch lebst und nicht schon längst im Kampf gegen die ungläubigen Römer gefallen bist, die die Oberherrschaft innehaben.«
Als er darauf keine Antwort fand, wandte sie sich wieder Timon zu. »Noch so ein unsinniger Brauch, der endlich ausgemerzt werden sollte. Bei Beschwerden sollen die Wachen sich direkt an mich wenden. Es steht ihnen dann jederzeit frei, ihren Dienst zu quittieren. Ich schätze jedoch, es wird zu keinen nennenswerten Unstimmigkeiten kommen.«
Wie vor vielen Jahren im Zitrushain von Ashdod fing sie einen bewundernden Blick von Timon ein, der ihr sehr gut tat. Es war, als verliebe er sich ein zweites Mal in sie.
»Was die Frage der Sklavenhaltung angeht«, fügte sie hinzu, »so ist tatsächlich der Bau einer Stadt nicht ohne Sklaven möglich. Ich werde jedoch dafür sorgen, dass jeder Sklave nach der Fertigstellung Philippis freigelassen wird und eine Wohnung in der Stadt erhält. Die handwerklichen Kenntnisse, die sie sich bis dahin erworben haben werden, ermöglichen ihnen dann ein bescheidenes Auskommen.«
Timon blinzelte sie dankbar an. Sein Blick schien sie einzuhüllen, und als er seine Sprache wiederfand, waren seine Worte wie zarte Berührungen. »Das ist sehr großzügig. Du bist die Frau geblieben, die …« Er schluckte und korrigierte seinen Satz. »Von der ich so viel Gutes gehört habe.«
»Und du«, erwiderte sie, »bist noch immer auf der Suche nach Gerechtigkeit.«
Sie waren beide sehr weit gegangen in dem, was sie gesagt hatten und wie sie es gesagt hatten, nun schwiegen sie vorsichtig. Nach einem Augenblick beklemmender Stille wandte Salome sich an den Offizier und die beiden Dienerinnen und befahl: »Stellt mein Zelt auf. Bis es fertig ist, lasse ich mich herumführen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Wenn du so freundlich wärst, Timon, mir einiges zu zeigen.«
»Soll nicht ich vielleicht lieber …«, bot Kallisthenes an.
Salome lächelte entschuldigend. »Normalerweise hätte ich natürlich dir als Älterem und Erfahrenerem der Architekten den Vorzug gegeben, Kallisthenes. Aber auf Dauer ist es mühsam für mich, griechisch zu sprechen, und Timon beherrscht glücklicherweise meine Heimatsprachen Aramäisch und Hebräisch.«
Sie trat mit Timon hinaus ins Freie. Die Sonne strahlte von einem ungetrübten Nachmittagshimmel und wärmte an einem dieser letzten schönen Tage des Jahres die Erde Basans. Nach der stickigen Luft der Baracke tat ihr die klare Brise gut, und sie atmete sie mit vollen Zügen ein. Noch befreiender war, dass sie bei Timon nicht mehr die Fürstin sein musste, sondern nach langer Zeit wieder Frau sein konnte, so wie damals in Ashdod.
»Endlich«, rief sie erleichtert aus, »endlich können wir miteinander reden, und da wir beim letzten Mal schon genug Luft abgelassen haben, wird unsere jetzige …«
»Verzeih, Herrin«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Sie fuhr erschreckt herum. Der sofer war ihnen unbemerkt aus der Baracke gefolgt und funkelte sie mit seinen klugen Augen an.
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