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Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Titel: Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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»Wünschst du, dass ich dich auf dem Rundgang begleite?«
    Sie schlug die Augen nieder. »Nein«, antwortete sie. »Der Fürst möchte sicher baldigst einen Bericht über den Stand der Arbeiten erhalten. Sorge dafür, dass noch heute ein Bote auf den Weg zu ihm geschickt wird.«
    Ein verächtlicher Zug spielte um Nathans Mundwinkel, doch er verneigte sich widerspruchslos und verschwand.
    »Puh«, stöhnte sie, »das war knapp.«
    »Er benimmt sich ziemlich freimütig für einen Diener. Habt ihr beide … Ich meine, seid ihr irgendwie … miteinander …?«
    Sie lachte auf. »Himmel, Timon, du hast Ideen. Sag, gibt es hier einen Ort, wo wir ungestört sein können?«
    Einen Moment schien Timon unentschlossen, dann erwiderte er: »Komm mit.«
     
    Es waren tausend Schritte nötig, bis sie das Feld der Wimpel, Gräben und Erdhaufen überquert hatten, und noch einmal so viele, um die Lager der Arbeiter hinter sich zu lassen. Sie nutzte diese Zeit in der Öffentlichkeit und erzählte Timon von allem, was sich nach seinem Verschwinden zugetragen hatte: vom hinterhältigen Spiel des Coponius und der Herodias, von ihrer eigenen Ahnungslosigkeit, der langen Suche nach ihm, der Hilfe von Pilatus und schließlich der vergeblichen Reise in den Steinbruch bei Ephesos.
    »Ich dachte, du seist tot, Timon. Der Verwalter sagte mir, er habe dich an eine Gladiatorenschule verkauft.«
    »Kallisthenes hat mich gekauft und sofort freigelassen. Das muss kurz vor deinem Erscheinen im Steinbruch gewesen sein.«
    »So viele Jahre«, murmelte sie kopfschüttelnd. »Aber nachdem ich keine Hoffnung mehr hatte, dich jemals wiederzusehen … Und die Gefahr, Ashdod an Antipas zu verlieren … Da habe ich doch lieber geheiratet.« Sie spürte den Zwang, sich entschuldigen zu müssen, und Timon begriff es.
    »Nicht doch. Du hast alles richtig gemacht. Ich hatte kein Recht, dir Vorwürfe zu machen.« Er senkte betroffen den Kopf. »Dass du überhaupt so lange an mich geglaubt hast, ist bewundernswert. Nach dem versuchten Mord an deiner Großtante hättest du vermuten können, dass ich dich nur benutzt habe.«
    Sie nickte. »In dunklen Stunden kam mir der Gedanke.«
    »So war es nicht. Ich …«
    Nun war sie es, die ihn beruhigte. »Du hast auch alles richtig gemacht, Timon.«
    Sie sah ihn an, er erwiderte ihren Blick. Für die Dauer eines Atemzuges kam sie sich wie das junge Mädchen vor, das mit dem noch nahezu unbekannten Jungen durch den Palast von Ashdod geschlendert war. Damals wie heute war sie aufgeregt, und damals wie heute plauderte sie freundlich mit ihm, berichtete von ihrem Leben und ihrer Vergangenheit, tauschte forschende und verlangende Blicke, kurz, sie verhielt sich wie eine Halbwüchsige vor dem Verlust ihrer Unschuld. Und er nicht anders. Ja, gewissermaßen waren sie wohl noch immer die unschuldigen und von Gefühlen verwirrten Kinder von Ashdod, denn ihre Beziehung hatte in den letzten zehn Jahren nicht reifen können, und das war alles andere als ein Vorteil. All die Tage und Nächte hatte sie nicht Timon selbst, sondern eine Vorstellung von ihm geliebt, einen Traum, eine Erinnerung, aber erst jetzt, da sie nebeneinander herliefen und redeten, begriff sie das. Die Zeit, die zwischen ihrer letzten Begegnung in Ashdod und der heutigen lag, konnte nicht verleugnet werden. So vieles war geschehen. Beide hatten sie Erfahrungen gemacht, die sie verändert hatten, er in der Gefangenschaft, sie durch zahllose Enttäuschungen und den Verlust fast aller geliebter Menschen. Neben ihr lief nicht mehr der nach Abenteuern suchende Siebzehnjährige, sondern ein gestandener Architekt, und sie hatte sich von einem unscheinbaren und unbedeutenden Mädchen zu einer geachteten Fürstin gewandelt, die noch nach weit mehr strebte.
    Sie erschrak und bekam Angst, was sie bisher nicht kannte. Monatelang hatte sie mit der Ungewissheit gelebt, ob Timon sie noch liebte. Doch plötzlich überfiel sie der Gedanke, ob sie Timon, den neuen Timon, der ihr vertraut und fremd zugleich war, würde lieben können, und diese Ungewissheit war schlimmer als die andere.
    »Du bist so still«, sagte er. »Möchtest du lieber umkehren?«
    Erst jetzt nahm sie wahr, dass Timon sie aus dem Feldlager hinausgeführt hatte. Sie waren vor einigen schroffen Felsen angekommen, kleinen Ausläufern des Hermon-Gebirges. Nur noch wenige Arbeiter trieben sich hier herum, die meisten von ihnen, um eine nahe gelegene Grube mit einem darüber gelegten Balken aufzusuchen, die als Latrine

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