Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
ließ sich müde auf dem Gras nieder und griff sich an den Bauch oberhalb der Leiste, wo bereits der Tod in ihr wucherte. Ein paar Monate, vielleicht noch ein volles Jahr, gaben ihr die Ärzte. Was würden das für Monate sein ohne einen Menschen in der Nähe, der sie liebte?
»Leb wohl«, flüsterte sie dem Schatten hinterher, der den fruchtbaren Garten verließ.
Die Stadtwache musste für Salome erst einen Korridor freimachen, damit sie überhaupt vor Gericht erscheinen konnte. Hunderte von Menschen drängten sich am Schaftor und dem Hügel Moriah. Sie reckten die Hälse nach Salomes Sänfte, sie schimpften, schoben und diskutierten und hätten am liebsten an der Verhandlung teilgenommen, wenn man sie gelassen hätte. Doch der Sanhedrin hatte strikte Anweisung gegeben, niemanden durchzulassen. Die Stimmung in der Stadt war ohnehin aufgeheizt, und allein der Prozess gegen eine derart prominente Ehebrecherin und womöglich Gattenmörderin – die Gerüchte machten sie dazu – tat schon ein Übriges; da wollte man nicht auch noch Öl ins Feuer gießen.
Dicht am Allerheiligsten, gleich neben dem Tempel, tagte von alters her der Sanhedrin , die oberste richterliche und gesetzgebende Körperschaft der Juden. Hier wurden religiöse und rechtliche Vorschriften erlassen, der Tempeldienst überwacht, die Anliegen der Priester- und Levitenkaste betreut und der Kontakt zu Synagogen innerhalb und außerhalb Judäas gehalten. Weiterhin fungierte der Sanhedrin als Stadtrat von Jerusalem und verwaltete außerdem den jüdischen Kalender, was bedeutete, dass er ein Schaltjahr verkünden konnte und für die Ausrufung des Neumonds und damit eines Monatswechsels zuständig war.
Die vielleicht wichtigste Aufgabe jedoch war seine Funktion als oberstes Gericht Judäas. Der Sanhedrin nahm für sich in Anspruch, die Gesetze, die er ausgearbeitet und anschließend beschlossen hatte, selbst zu überwachen und etwaige Verletzungen zu untersuchen und zu ahnden. Von Gefängnisstrafen bis hin zum Tod durch Erhängen oder Steinigung stand dem Sanhedrin jedes Urteil offen; die Todesurteile jedoch bedurften der Bestätigung des römischen Prokurators, die er in der Regel auch erteilte. Da der Sanhedrin über eine eigene Polizei verfügte, der speculatora , konnte er die Umsetzung seiner Urteile ohne Hilfe der Römer selbst bewerkstelligen. Dass er einst unter Herodes zu ohnmächtiger Unterwürfigkeit degradiert worden war, dass seine Gesetze kontrolliert, seine Entscheidungen ungültig gemacht und einzelne seiner konservativen Mitglieder verhaftet und hingerichtet worden waren, hatte der Sanhedrin der herodianischen Familie nie verziehen. In dieser Versammlung, das wusste Salome, war sie ohne Freund und nur auf sich allein gestellt.
Die siebzig Männer, die über Salome richten sollten, saßen im Halbkreis in der großen Gerichtshalle. Hinter ihnen brannten Hunderte von Kerzen in großen menorot , und an den Wänden prangte das riesige Magen David , das sechszackige Schild Davids, sowie eine bronzene Palme, von jeher ein wichtiges Symbol des jüdischen Volkes. In ihren wallenden Gewändern bildeten die Priester , Leviten und Rabbiner ein beeindruckendes Bild. Nicht einer von ihnen war in den Sanhedrin gewählt worden, sie alle verdankten ihre Mitgliedschaft der hohen Geburt in einer ehrwürdigen alten Familie. Und genauso wirkten sie auch auf Salome: ehrwürdig, altväterlich, starr wie eine Mauer; siebzig Patriarchen in siebzigster Generation.
Doch Salome wusste auch, dass hinter dieser Fassade der Gleichheit und Harmonie gestichelt, intrigiert und über die absurdesten Themen gestritten wurde, wobei Sadduzäer, Pharisäer und Essäer drei unversöhnliche Fraktionen bildeten. Die Essäer protestierten gegen den Versuch der Pharisäer, den 354-tägigen Mondkalender durch einen Sonnenkalender zu ersetzen, und kündigten Gottes Zorn an. Die Pharisäer wiederum sprachen den Sadduzäern ab, von elitärer Geburt zu sein, und die Sadduzäer verwarfen den Glauben der Pharisäer an Geister und Engel. Und selbst innerhalb der jeweiligen Sekten tobten erbitterte Machtkämpfe zwischen den großen Familien, die den anderen keinen Vorrang einräumen wollten: Die Boethos gegen die Kathros, die Kathros gegen die Hanan, die Hanan gegen die Phiabi und so fort. Unablässig überzogen sie sich mit Argwohn, verbündeten sich kurzfristig gegen dritte, bildeten Klüngel und Cliquen, um schließlich doch wieder in Feindschaft und Hader zu verfallen.
Nur zwei
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