Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Männer aus der Gruppe der Siebzig waren Salome bekannt. Kaiphas, der Hohepriester und damit Vorsitzender des Sanhedrin , war damals bei ihrer Hochzeit mit Philipp zugegen gewesen, ein ältlicher Mann mit fahlen Augen und leicht gebeugtem Rücken, ein Kompromisskandidat zwischen den widerstreitenden Interessen der Sekten und Familien. Er sah nicht aus, als wolle er eine entscheidende Rolle bei der bevorstehenden Verhandlung führen, außer natürlich, sie zu eröffnen und mit einem Urteilsspruch, den die anderen neunundsechzig beschließen würden, wieder zu beenden. Der andere konnte Salome gefährlich werden: Rabban Jehudah, mit dem sie bereits in Tiberias aneinander geraten war und der auch ihrem Tanz in Masada zugesehen hatte. Schon lange wartete er auf eine Gelegenheit wie diese, um seine Feindin von einst zu bezwingen und damit sein Versprechen wahr zu machen, dass sie sterben würde, wenn sie sich gegen ihn und den Glauben stelle. Seine großen Augen waren in den vergangenen Jahren noch Furcht erregender geworden, und erneut fröstelte sie unter seinem unheimlichen Blick.
»Salome, Fürstin von Ashdod und Prinzessin von Judäa«, begann Kaiphas. »Du bist vor dem erhabenen Sanhedrin angeklagt, das siebte Gebot übertreten und dich deshalb vor Gott und deinem Mann schuldig gemacht zu haben. Wie äußerst du dich zu dieser Anklage?«
Salome war noch in das Schwarz der Trauer gekleidet, selbst ihre untere Gesichtshälfte war bisher durch einen feinen, transparenten Schleier verdeckt gewesen. Nun lüftete sie diesen.
»Zunächst einmal: Wer klagt mich an?«
Auf ein Zeichen von Kaiphas hin wurde Nathan hereingeführt. »Dieser Mann«, rief Kaiphas, »war der Diener deines toten Gemahls, und er verbürgt sich, dass du eine Liebschaft mit einem Ungläubigen eingegangen bist.«
»So ist es«, bestätigte Nathan. »Sie hat sich viele Male mit einem Griechen zusammengelegt, einem der Architekten Philippis, und sie hat damit meinem Fürsten und Herrn das Herz gebrochen. Sogar als er schon im Sterben lag, hat sie sich mit diesem Timon unweit von Bethsaida getroffen.«
»Was für ein Scharlatan du doch bist«, griff Salome ihn an. »Alles, worauf du deine Anklage begründest, sind Vermutungen. Du hast nie gesehen, dass ich mit irgendjemandem zusammengelegen habe. Du hast noch nicht einmal gesehen, dass mein eigener Mann bei mir gelegen hat.«
Rabban Jehudah mischte sich ein. »Hatte Philipp einen Verdacht bezüglich des Ehebruchs«, fragte er Nathan. »Hat er mit dir darüber gesprochen?«
»Er war ein ehrenhafter Mann«, sagte Nathan. »Nie hätte er ein böses Wort über seine Frau gesagt. Aber was sie tat, bekümmerte ihn, das war ihm anzumerken.«
Hier hakte Jehudah ein, um die besondere Schwere des Ehebruchs festzustellen. Schließlich würde der Sanhedrin wohl kaum eine Ehebrecherin zum Tode verurteilen, die mit Billigung des Mannes vorgegangen war. »Ist er womöglich sogar an Salomes frevelhaftem Verhalten zugrunde gegangen? War es das, was ihn auf das Krankenlager warf?«
Nathan druckste bei dieser Frage herum, aus gutem Grund. »Das … das weiß ich nicht«, sagte er. »Möglich wäre es schon. Ja, wenn ich genauer darüber nachdenke, ist es sogar wahrscheinlich.«
»Was für ein elender Lügner du bist«, rief Salome. »Du weißt sehr gut, dass Philipp an einer Entzündung gestorben ist. Ich verlange, dass der griechische Arzt hergebracht wird, der meinen Gemahl behandelt hat.«
»Unbeschnittene sind keine vollwertigen Zeugen«, unterbrach Jehudah. »Der Arzt darf nicht zugelassen werden. Es gilt, was Nathan sagte, dass nämlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass Philipp aus Gram über Salomes schändlichen Ehebruch gestorben ist.«
»Er war am Geschlecht erkrankt«, schrie Salome. »Der griechische Arzt hat es mir im Vertrauen erzählt, und er kannte auch die Ursache: Philipp hat bei einem Mann gelegen.« Und mit einem Blick auf Nathan fügte sie hinzu: »Bei mehreren Männern.«
Unruhe erfasste den Saal, Wortfetzen flogen durcheinander. »Ungeheuerlich« … »Frechheit« … »Betrügerin« … »Leichenschänderin« waren noch die mildesten Beschimpfungen, die Salome über sich ergehen lassen musste.
Nathan zeigte mit dem Finger auf sie und schrie: »Sie lügt. Sie hat vom ersten Tag an meinen Herrn gering geachtet, und nun will sie mittels dreister Beschuldigungen den Kopf aus der Schlinge ziehen.«
Vergeblich versuchte Kaiphas, die Gemüter zu beschwichtigen, erst als Jehudah sich von
Weitere Kostenlose Bücher