Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
sie in diesem Land, das auch ihr Land war. Sie war eine Fremde, doch aus ihrer Sicht waren es die anderen, die fremd waren.
Der Garten Gethsemane war durchdrungen vom Duft der Zypressen und wilden Kräuter, die zwischen den Steinen wucherten. Auf den wenigen noch grünen Grasflächen weideten Lämmer, behütet von einem Hirten, der sie lustlos mit leichten Stockschlägen zusammenhielt. Offene Flächen wechselten sich mit dichtem Gebüsch ab, und Salome streifte sowohl im Garten wie auch in ihren Erinnerungen ziellos umher. Wolken zogen auf und warfen ihre wandernden Schatten auf die Erde. Der Himmel verdunkelte sich, doch es lag keine Feuchtigkeit, kein Regen in der Luft. Salome setzte sich auf einen warmen Stein. Sie war derart in Gedanken versunken, dass sie die Gestalt, die sich ihr genähert hatte, erst bemerkte, als sie direkt neben ihr stand.
Einen flüchtigen, verlorenen Augenblick lang glaubte sie, Timon sei gekommen, und Angst und Hoffnung versetzten ihr gleichzeitig einen Stich. Dann sah sie …
»Du?«
Ihre Mutter stand wie ein Geist neben ihr. Sie war um die Hälfte ihres früheren Gewichts abgemagert, ihr Gewand war nicht so herausgeputzt, wie man es sonst an ihr kannte, und die Farben, mit denen sie sich schon immer Wangen und Lider bemalt hatte und die sie sonst so strahlend aussehen ließen, wirkten nur noch wie eine billige Fassade. Am auffälligsten war, dass der Lebenshunger in ihren Augen erloschen war.
»Ich habe Philipps Bestattung aus der Ferne verfolgt«, erklärte Herodias ungewöhnlich mild. »Ich sah, wie du hierher kamst, und da wollte ich zu dir.«
»Was willst du?«, fragte Salome.
»Muss denn eine Mutter immer etwas Bestimmtes wollen, wenn sie ihr Kind besucht?«
»Ich weiß nicht, ich bin keine Mutter. Und du bist auch keine.«
Salome bemerkte Herodias’ Erschrecken, und ohne dass sie es wollte, spürte sie plötzlich einen Funken Mitleid in sich. Sie fragte freundlicher: »Hast du Antipas verlassen, nun, wo er nicht mehr zum Fürsten und König taugt?«
Herodias schlug die Augen nieder. »Deswegen bin ich nicht nach Jerusalem gekommen.«
»Warum sonst? Willst du bei Pilatus betteln?«
Herodias schluckte. »Dein Prozess. Ich dachte – ich dachte, du könntest jemanden an deiner Seite gebrauchen.«
Salome stand auf und lachte bitter. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Deine Anwesenheit soll mir helfen? Sie macht alles nur noch schlimmer! Oder muss ich dich daran erinnern, dass dein Ruf kaum besser als mein eigener ist? Liebschaften, verbotene Schwagerehe, Orgien … Die Pharisäer im Sanhedrin werden begeistert sein, wenn ich dich als moralischen Leumundszeugen aufrufen lasse.«
»Verstehst du nicht? Ich möchte einfach ein wenig Zeit mit dir verbringen.« Ihr Ton klang bittend, mehr noch, fast flehentlich.
Salome blickte sie einige Atemzüge lang unschlüssig an. Ihre Mutter schien völlig verändert, nicht nur äußerlich, sondern in ihrem ganzen Wesen. Sie hatte sie nur selbstbewusst erlebt, verführerisch, verlangend, geldgierig, egoistisch und rücksichtslos, manchmal auch ängstlich, nie jedoch so schutzlos wie jetzt. Konnte es sein, dass Antipas’ Entmachtung das bewirkte? Ging mit seinem Untergang auch Herodias zugrunde?
»Du bist an deinem Unglück selbst schuld«, sagte Salome.
»So wie du an deinem.«
»Ja, ich habe Fehler gemacht«, gestand Salome. »Aber den Mann, den ich hatte – meine Affäre, wenn du so willst -, habe ich wenigstens geliebt. Du dagegen bist wie eine Libelle von einem zum anderen geflogen. Ja, und ich trage meine Schuld am Tod des Täufers, du dagegen bist immer schon grundlos grausam gewesen. In den Augen des Volkes mögen wir gleich scheinen, doch wir sind es in keiner Weise. Es tut mir Leid. Du hast mir zu viel genommen, Herodias, um in dir eine Stütze zu sehen oder sonst irgendetwas, das ich in meinem Leben brauche.«
Salome ging an ihrer Mutter vorbei, und als sie schon beinahe vom Halbdunkel verschluckt war, rief Herodias hinter ihr her:
»Wir sind verflucht, Salome. Wir alle.«
Sie blieb stehen und wandte sich noch einmal um. »Ja, das sind wir wohl«, sagte sie nachdenklich. »Abergläubische Irre, Trunkenbolde, Schwächlinge, Fanatiker, kinderlose Frauen … Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben, nicht mit diesem Land, nicht mit diesen Menschen. Ich sage mich los. Ich gehe fort, so oder so. Und wir werden uns nicht wiedersehen.«
Herodias blieb allein im Garten Gethsemane zurück, dunkle Wolken über ihr. Sie
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