Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
ging, blickte er noch einmal zu ihr zurück. Salome gab ein Bild des Jammers ab, mit fettigem Haar, äußerlich verwahrlost und zutiefst niedergeschlagen. Pilatus erinnerte sich noch an die Salome früherer Tage, an ihre mädchenhafte Schönheit in Tiberias, an ihren ernsten, melancholischen Zauber während der Hochzeit am Jordan und ihren verführerischen Reiz in Masada, als sie den Tanz aufführte, der jedem unvergessen bleiben würde, auch denen, die sich empört gaben, auch ihm selbst.
Und nun war sie zerstört, eine Frau ohne Zukunft.
»Meine Leute werden nur zum Schein nach Timon fahnden«, warf er ihr den Gefallen noch hin wie einer Bettlerin, bevor es wieder finster um sie wurde.
20
Auf dem beit chakvarot , dem Friedhof auf dem Ölberg, wurde Philipp mit allen Ehren bestattet. Das schlichte Grab war der Tradition gemäß erst am Morgen geschaufelt worden, die Gäste hatten zum Zeichen der Trauer ihre Kleidung ein Stück eingerissen, und ein Rabbiner sprach die letzten Worte: »Seine Werke sind ein Fels. Sie sind vollkommen, denn alles, was er tut, das ist recht. Treu ist Gott und kein Böses ist an ihm, gerecht und wahrhaftig ist er. Gelöst ist die Schnur und gebrochen das Band. Shalom. «
»Shalom«, erwiderten die Gäste im Chor.
Alles war, wie Philipp es sich gewünscht hätte.
Während ein Mann ein nashid sang, ein gedichtartiges Lied, wurde Philipps Körper in das Grab gelegt und langsam mit Erde bedeckt. Man hatte ihn in einen Gebetsmantel gehüllt, doch Salome musste erkennen, dass es nicht jener war, den sie ihm damals bei der Hochzeit geschenkt hatte. Es war offensichtlich, dass er nichts in sein ewiges Grab mitnehmen sollte, das von ihr stammte.
»Erhöht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er erneuern wird, wenn er die Toten belebt und zum ewigen Leben führt«, beteten die Menschen.
Dann löste sich die Trauergemeinde auf.
Salome blieb noch am Grab, bis es vollständig aufgefüllt war. Es war ihr egal, dass die anderen sie eine Heuchlerin schimpften und dass sie sogar spekulierten, ob sie ihren Gemahl nicht vergiftet habe. Ja, sie hatte früher manchmal gewünscht, es gäbe ihn nicht, doch nun, wo Philipp gegangen war, vermisste sie ihn. Er hatte ihr stets Sicherheit gegeben, und er hatte nie – auch nicht in den schlimmsten Tagen – ein böses Wort gegen sie gerichtet. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wie viel so etwas in diesen Zeiten bedeutete und wie selten jemand wie er zu finden war.
Sie blickte den Hügel hinab, wo die Mauern im Herbstglanz der Sonne golden leuchteten, dahinter ragten der Tempel des Einen Gottes und die Festung Antonia auf, wo sich morgen ihr Schicksal entscheiden würde. Ein warmer Wind fegte durch die vertrockneten Sträucher der Landschaft und zerrte an Salomes schwarzen Schleiern. Eine Weile blieb sie noch, denn sie spürte, dass sie Abschied nehmen musste von diesem Ort, der schon lange nicht mehr ihr Zuhause, aber immer ihre Heimat geblieben war: Jerusalem. Dann verließ sie den Ölberg und ging in Richtung des Goldenen Tores. Hunderte von Eidechsen huschten auf ihrem Weg an ihr vorüber, und Scharen von Vögeln kreisten hoch über ihr und krächzten ihr schauerliches Lied.
Am Garten Gethsemane, kurz vor dem Goldenen Tor, blieb sie stehen. Sie erinnerte sich, dass sie ein einziges Mal hier gewesen war, noch als Kind, fünf oder sechs Jahre alt. Ihre Eltern hatten sie mit hierher genommen. Sie hatten hebräische Decken dabei, Körbe voll Käse, Brot und Wein, eine Schale charrosseth , Trockenpflaumen, Mandelgebäck … Sie aßen und lachten, und ihre Mutter hielt sie im Arm, dicht bei sich. Damals hatte Salome sich keine Gedanken darüber gemacht, warum sie die einzigen Menschen im Garten waren; heute begriff sie, dass Herodes ihn an diesem Tag hatte absperren lassen, damit sein Sohn und seine Familie einen ungestörten Nachmittag verleben konnten. Schon damals also war Salome – wie die ganze herodianische Familie – eine Außenseiterin gewesen, nicht eine Frau des Volkes, sondern gemäß dem Willen des Herodes eine Frau über dem Volk. Er hatte ihr Leben bestimmt – er tat es bis heute. Salome hatte nie die einfache Frömmigkeit der Juden annehmen, nie ihre Sturheit akzeptieren, nie ihren Widerstand gegen Neuerungen verstehen können, weil sie nie unter ihnen gelebt hatte, sondern stets hoch über ihnen, in Palästen auf Hügeln. Sie war wie die Vögel hoch über ihr: Sie gehörte nicht zu den Menschen in den Gassen, und doch lebte
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