Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
den ersten Blick versprach Rom all das und noch mehr. Hier war der Schmelztiegel eines gewaltigen Reiches, jede Art von Handel, jedes Gesetz, jede Münze hatte hier Ursprung und Bestimmung – nicht umsonst hieß es, dass alle Wege nach Rom führten. Diese Stadt schlief nie. Jeden Tag wurden hier tausend Geschäfte beschlossen und jede Nacht rauschten tausend Feste in den Villen der Reichen ebenso wie in den Tavernen der kleinen Leute. Menschen mit bunten Kopfbedeckungen kreuzten die Wege von altehrwürdigen Senatoren in langen Togen, und Gallier in Hirschfellen kauften bei Händlern mit schwarzer Haut. Hier war der Gipfel aller Möglichkeiten, alles war hier zu gewinnen und zu verlieren, unsagbar dicht lagen Erfolg und Reichtum sowie Unglück und Armut beieinander, und nicht wenige junge Männer verloren hier an einem einzigen Tag alles, wofür ihre Väter und Mütter dreißig Jahre lang geschuftet hatten, und so herrschte ein ständiges Kommen und Gehen der Abenteurer auf der Suche nach Glück und der Gescheiterten auf der Flucht vor ihren Gläubigern.
Rom war aber auch eine Weltstadt des Überflusses. Edelsteine, Metalle, Gewürze, Rauschmittel, Sklaven, Hölzer, Getreide, Marmor, Wein und Speisen, exotische Tiere und Statuen wurden jeden Tag in gigantischen Mengen in die Metropole gebracht – und das wenigste davon verließ den Umkreis der sieben Hügel wieder. Selbst Götter und Kulte aus fernen Gegenden wurden von den Leuten ebenso begierig aufgesogen wie einige Jahre später zu Gunsten eines neuen modischen Kultes wieder fallen gelassen. Nichts lebte lange in Rom. Unersättlich, unstillbar war der Hunger der Metropole. Vergeblich, dass schon Augustus und nicht anders Tiberius den Einwohnern der Hauptstadt das Getreide kostenlos ausgaben, vergeblich auch, dass fast täglich zur Unterhaltung des genusssüchtigen Publikums Wagenrennen, Wettkämpfe und Gladiatorenspiele veranstaltet wurden und dass die Hälfte der Römer nicht selten weniger als fünfzehn Tage im Monat arbeiten musste, weil ein Feiertag den anderen ablöste – nie waren sie zufrieden, immer mehr wollten sie haben, immer weniger dafür tun.
Von der Welt wussten diese Menschen recht wenig. Wenn Salome ihnen sagte, dass sie aus Judäa stamme, vermuteten manche dieses Land hinter Britannien und andere glaubten, es sei eine Insel bei Griechenland. Doch gleichgültig, wer man war und woher man kam: niemand galt einem Römer so viel wie ein Römer. Es spielte keine Rolle, ob man persischer Himmelsforscher war oder griechischer Philosoph, ob Kaufmann aus Ägypten, Architekt aus Hispanien oder Dichter aus Africa, solange man kein Römer war, war man in den Augen selbst des größten römischen Nichtsnutzes wenig wert. Es war, als gäbe es keine wirkliche Welt außerhalb der ihren, als seien alle anderen Menschen und Städte nur Kulissen für ihre Stellung und Macht, und darum war es ihnen auch gleichgültig, ob zu ihrem Vergnügen hundert, tausend oder dreitausend Menschen in den Arenen zugrunde gingen und ob bei den Rennen zwei oder fünf Pferdewagen an der Bande zerschmetterten. Dass ganze Provinzen an Menschen, Tieren und Rohstoffen ausbluteten, damit eine einzige Stadt träge und satt sein konnte und nie Langeweile ertragen musste, damit sie ihre Genüsse vervollkommnen und ihre Lust zu neuen Höhepunkten treiben konnte, bereitete hier niemandem eine schlaflose Nacht. Nicht, dass die Römer besonders grausam gewesen wären – fast niemand von ihnen hätte gerne selbst jemanden umgebracht oder gequält. Doch ihre geistige Unbeweglichkeit, gepaart mit ihren schlechten Manieren, ihre Verführung durch ein nahezu perfektes Vergnügungssystem, gepaart mit der selbstzufriedenen Feststellung, als größte Macht müsse man auch etwas von seiner Größe haben, machte diese Stadt für Salome an manchen Tagen unerträglich.
Wobei es enorme Unterschiede gab. Nie, so merkte Salome schnell, war ein Volk ein Wesen aus einem Guss. Direkt hinter den sieben Hügeln traf sie auf völlig andere Menschen, auf ländliche Gutsbesitzer, Handwerker und Kaufleute, die mit den ausgefallenen Vergnügungen der Hauptstadt wenig zu tun hatten, die weder Arenen besuchten, noch die Nächte durchzechten, sondern Brot backten, Äcker bestellten und Wein kelterten. Die enorme Machterweiterung des Imperiums, die Dekadenz der Oberschicht, der Vergnügungs- und Ablenkungstaumel der städtischen Masse stieß bei diesen Leuten auf Gleichgültigkeit oder sogar Ablehnung. Zu ihnen nach
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