Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Tibur, Antium und Tusculum reiste Salome, wenn sie durchatmen wollte.
Doch schon bald war das nicht mehr möglich. Ihre Schwangerschaft erschöpfte sie schnell, und sie ging nur noch selten aus dem Haus. Eine der wenigen Ausnahmen machte sie, als sie eine überraschende Einladung erhielt.
Antonia, die greise Schwägerin des Kaisers, bat sie zum Abendmahl zu sich. Tiberius hatte nur wenig übertrieben, als er sie spröde nannte. Als Patrizierin von altem Schlag war sie steif und förmlich und leicht distanziert. Am liebsten redete sie über die »alten Tage« Roms, als Disziplin, Aufopferung, Pflichtbewusstsein und Loyalität gegenüber dem Staat noch selbstverständliche Werte gewesen seien, als man Moral und Ordnung schätzte, als … Kurz, sie sprach von einer vergangenen Epoche. Ihr hinkender und zuckender Sohn Claudius, etwa in Salomes Alter, war kein schöner Anblick, aber er war ausgesprochen belesen. Die wichtigsten Städte Judäas waren ihm ebenso bekannt wie herausragende geschichtliche Ereignisse, und er konnte sogar einige Sätze Aramäisch sprechen. Als ihn seine Mutter jedoch mit einem ihrer verächtlichen Seitenblicke bedachte, ebbte seine Begeisterung für dieses Thema schnell ab.
»Soso«, sagte Antonia und blickte Salome an. »Du willst also in Rom bleiben und dein Kind hier großziehen?«
»Das habe ich vor, ja«, bestätigte Salome.
»Früher hätte ich das ja für eine gute Idee gehalten. Zu der Zeit, als ich noch jung war, gab es nichts Besseres als eine römische Erziehung. Die Jungen lernten Tapferkeit, Standfestigkeit und Ehrfurcht, die Mädchen Bescheidenheit und Gehorsam, alles Tugenden, auf die unser Staat gründet. Heute dagegen …« Sie winkte ab.
Salome machte ihre Gastgeberin aus Höflichkeit nicht darauf aufmerksam, dass diese angeblich beste Erziehung nicht hatte verhindern können – vielleicht sogar begünstigt hatte -, dass die julisch-claudische Herrscherfamilie sich in gegenseitigen Intrigen, Verschwörungen und Giftanschlägen selbst ausgemerzt hatte und dass nur ein kläglicher Rest noch von ihr übrig war.
»Ich würde dir raten«, fuhr Antonia fort, »keinen allzu engen Kontakt zu Agrippa zu halten. Ich weiß, jeder hält ihn für einen lustigen Gesellen, sogar« – sie warf wieder einen verächtlichen Seitenblick auf Claudius – »sogar mein Sohn. Den jungen Leuten heutzutage gilt Humor anscheinend als wichtigste Tugend. Aber was ist schon Humor? Die größten Feiglinge und Versager der Geschichte besaßen Witz und Geschmeidigkeit. Und was hat es ihnen genutzt? Nichts! Die Helden der Welt waren eisern, stark und ernst.«
Claudius mischte sich ein. »Da-das stimmt ni-icht ganz, M-m-mutter. Ich habe ein B-beispiel, das deine T-these widerlegt.«
Antonia zog die Mundwinkel nach unten. »So? Welches?«
»Au-au-au …«
»Nun spuck es schon aus, Claudius! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Augustus. Er b-besaß einen ausgepr-rägten Hu-hu-hu …«
»Hu-hu-hu«, unterbrach ihn Antonia und verdrehte die Augen. »Humor wolltest du wohl sagen. Du hast nicht nur eine Ewigkeit gebraucht, um dein Beispiel vorzutragen, sondern es ist auch schlecht. Augustus mit Agrippa zu vergleichen! Absurd! Dieser Mann ist verspielt, seicht und rückgratlos, Salome wird mir sicher Recht geben.«
»Ich bin ihm bisher noch nicht begegnet.«
»Sehr vernünftig von dir, mein Kind.«
»Oh, das ist nicht mein Verdienst. Er befindet sich seit Monaten nicht in Rom.«
»A-a-agrippa v-verbringt den Winter auf dem Land«, erklärte Claudius. »Zusammen mit C-c-calig-g-gula. Die beiden sind die besten Freunde.«
»Auf dem Land?«, rief Antonia. »Dort ist es im Winter doch schrecklich langweilig, selbst für mich.«
»I-ich frage mich au-auch, was sie dort den g-g-ganzen T-t-tag tun.«
»Das will ich mir überhaupt nicht vorstellen. Hat Caligula seine Schwestern mitgenommen?«
»Nur Dru-dru-drusilla.«
»Die ist so gut wie drei«, spottete Antonia.
»M-m-m-mutter, bitte! Wir h-haben einen G-gast.«
»Wisch dir erst einmal die Nase, bevor du mir Manieren beibringen willst. Außerdem weiß jeder, was für eine Person Drusilla ist. Ich möchte nicht weiter über dieses unappetitliche Thema sprechen.« Sie wandte sich Salome zu. »Wie geht es meinem Patenkind?«
»Verzeihung«, bat Salome. »Ich weiß leider nicht, wen du meinst.«
»Berenike, natürlich. Es war damals eine Marotte von Augustus, dass jedes seiner Familienmitglieder eine Patenschaft für ein Kind aus befreundeten
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