Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
Händen auf der Brüstung der Terrasse ab und blickte zum Himmel hinauf, wo mondbeschienene Wolken gemächlich ihre Bahn zogen.
»Ich wünsche dir und deinem Kind alles Gute, Prinzessin Salome. Wir werden uns nicht wiedersehen.«
Sie bekam plötzlich Mitleid mit dem verbitterten Mann. »Vielleicht könnte ich dich wieder einmal besuchen«, bot sie an. »Wenn mein Kind erst geboren ist …«
»Nein«, unterbrach er. »Die Sterne lügen nicht. Auch das haben sie den Menschen voraus.«
Salome folgte dem Hinweis von Tiberius und ließ sich gleich nach ihrer Ankunft in Rom zur neuen Villa Agrippas auf dem Quirinal bringen. Einerseits war sie neugierig auf den Mann, der sie quasi beerbt hatte, zum anderen brauchte sie tatsächlich einen Anlaufpunkt in dieser Stadt, in der sie niemanden kannte. Doch es stellte sich heraus, dass Agrippa derzeit nicht in Rom war. Sein Verwalter sagte, er sei auf dem Land, wo er bei hochgestellten Persönlichkeiten die letzten schönen Herbsttage verbringen wolle. Mehr war nicht zu erfahren.
So mietete Salome sich zunächst ein eigenes Haus. Nach ihrem Freispruch durch den Kaiser standen ihr wieder die Einnahmen aus Ashdod zu. Ihre kleine Stadt war in den letzten Jahren hervorragend gediehen, die pax romana , der römische Friede, sorgte dort für gute Geschäfte, für Wohlstand und damit für hohe Steuereinnahmen. Trotzdem beschränkte Salome sich auf ein mittelgroßes Haus im neunten Bezirk, nahe dem Pantheon. Das war nicht die beste Adresse, dafür war es ruhig und übersichtlich, mit einem hübschen Atrium, einem plätschernden Brunnen und viel Sonnenlicht, genau das Richtige für eine Frau, die ein Kind erwartete.
Nun war sie frei, doch sie hatte sich ihre Freiheit stets anders vorgestellt, behüteter, geselliger, abenteuerlicher. Nie hatte sie sich gewünscht, ohne einen Mann an ihrer Seite zu leben, ohne Timon; nie auch hätte sie sich vorstellen können, ohne Verantwortung für eine Stadt oder ein Land ausgefüllt zu sein. Gewiss, Ashdod unterlag wieder ihrer Regentschaft, aber ein Verwalter samt Mitarbeitern leitete die Geschäfte in ihrer Abwesenheit. Er schrieb ihr dreimal in der Woche Berichte, und sie sandte dreimal wöchentlich eine Botschaft zurück. Eine Aufgabe fürs Leben war das nicht. Seltsamerweise fehlte es ihr dennoch an nichts. Sie freute sich über das in ihr wachsende Kind und sog jeden Tag in Rom neue Eindrücke auf. Damit war sie vorerst zufrieden.
In den ersten Wochen streifte sie über die Foren, besuchte Theater und Sportwettkämpfe, ging in die Therme für Frauen, kaufte sich Schmuck bei syrischen Goldschmieden, Gewänder bei griechischen Webern, duftende Ebenholzmöbel bei ägyptischen Zimmerleuten und viele wärmende Felle, die sie im Winter auf den Boden legen wollte, bei germanischen und gallischen Händlern. Sie lauschte den Unterhaltungen flanierender Patrizierinnen ebenso wie den derben Zwistigkeiten der plebejischen Arbeiter, beobachtete die Römer, wenn sie in die Arenen strömten und wenn sie wieder herauskamen, probierte ihre Speisen, sog ihre Luft ein, las ihre Komödiendichter und versuchte, mit so vielen und so verschiedenen Leuten wie möglich zu sprechen.
Nach drei Monaten war sie ernüchtert, desillusioniert – und abgestoßen. Dass die Stadt schmutzig und weitgehend hässlich war, dass aus ihren engen Straßen Uringestank aufstieg, dass der Tiber täglich dutzendweise Tierkadaver an die Ufer spuckte, dass die Händler sie und jeden anderen, der wohlhabend aussah, an jeder Ecke mit ihren billigen Waren belästigten und die Karren selbst nachts über das Pflaster ratterten, so dass gesunder Schlaf kaum möglich war, das alles war noch das geringste Übel.
Von Judäa aus war ihr Rom stets wie die Verkörperung all dessen vorgekommen, was die Welt nötig hatte. Die Millionenmetropole war in ihren Augen das Zentrum eines neuen Denkens gewesen, eine Garantin für Frieden und eine Ideenschmiede, die sich frei gemacht hatte vom Diktat des Glaubens und des Kastendenkens. In Rom wurden jahrhundertealte Gesetze über Bord geworfen, der alte Adel löste sich langsam auf und neue Schichten drängten nach oben, Priester hatten keine politische Macht mehr, Menschen aus den fernsten Provinzen konnten das römische Bürgerrecht erwerben, Dichtung und Architektur kamen zu neuer Blüte … Salome hatte jahrelang, ja, jahrzehntelang, von diesen aufregenden Veränderungen geschwärmt, die eine neue Epoche einzuleiten schienen.
Und tatsächlich, auf
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