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Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome

Titel: Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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irgendeinen Sinn haben. Die meisten Einwohner Ashdods sind bereits geflohen, die Stadt brennt, und unsere Soldaten sind den Feinden zwanzig zu eins unterlegen. Ich wüsste nicht, was wir hier verteidigen sollten.«
    »Dann will ich nach Jerusalem«, sagte Gilead. »Ich muss Agrippinos befreien.«
    »Wir wissen nicht mal, ob er noch … ob er überhaupt gefangen ist.«
    »Ob er noch lebt, wolltest du sagen. Er lebt. Er ist gefangen. Er braucht mich.«
    »Er braucht eine Armee, Gilead. Keinen dreizehnjährigen Jungen, der neben ihm an einem Galgen baumelt.«
    »Du hast vorhin gesagt, dass ich von nun an meine eigenen Entscheidungen treffen darf.«
    »Ich nehme alles zurück.« Salome blickte ihren Sohn mit ernster Miene an. »Ich verstehe dich. Und ich mache mir genauso große Sorgen um Agrippinos wie du. Ich brauche dich allerdings hier, Gilead. An meiner Seite.«
    Dieses Argument – nichts anderes – hielt Gilead davon ab, sofort nach Jerusalem zu reiten.
    Noch in der Nacht brachen sie gen Norden auf, nachdem Salome ihrer Truppe die Flucht nahe gelegt und sich bei jedem der Getreuen mit einer Börse voll Münzen bedankt hatte. Die beiden Frauen, die bisher nie geritten waren, setzten sich hinter die Männer auf die Pferde und hielten sich an ihnen fest. »Stundenlang den erwachsen gewordenen Sohn umarmen – welche Mutter träumt nicht davon?«, scherzte Salome und lockerte damit die Stimmung etwas auf.
    Sie wurden von zehn Soldaten begleitet, aber als der Morgen anbrach, waren es nur noch sieben, und als sie die Gegend um Joppe erreichten, noch vier. Schuld an diesem Schwund waren die Leichen, an denen sie vorbeikamen und die davon zeugten, wie gefährlich dieser Ritt durch »Feindesland« war. In jeder Stunde sahen sie wenigstens drei Tote, manche halb verwest, andere, die erst vor kurzem ermordet worden waren: Griechen, Araber, Essäer, Christiani mit kleinen Kreuzen um den Hals, einfache Bauern und Kaufleute … Sie lagen am Wegesrand, mit durchschnittenen Kehlen oder großen Löchern in ihren Leibern. Andere hingen an Ästen, umlagert von Krähen, Elstern und Raben. Und wieder andere waren von Dorfbewohnern notdürftig verscharrt worden, wobei nicht selten eine Hand oder ein paar Zehen aus dem staubigen Boden ragten. Für Salome waren es grauenhafte Stunden, doch nach einer Weile lernte sie – wie die anderen, auch Gilead – die Toten zu übersehen, gleichsam durch sie hindurch zu blicken. Sie wurden beinahe zu einem Teil der Landschaft, und hatten die vier Flüchtenden anfangs im Angesicht der massakrierten Leiber noch entsetzt geschwiegen, schafften sie am zweiten Tag irgendwie, wieder einigermaßen normal miteinander zu reden. Sie mussten reden und die Toten dabei vergessen, sonst wären sie wahnsinnig geworden.
    Was Salome allerdings nicht vergessen oder übersehen konnte, waren die traurigen Augen der Dorfkinder. Kinder waren die Zukunft des Landes. Sie hätten Frieden gebraucht, damit der Frieden in ihren Herzen zu einer kräftigen Pflanze wachsen konnte. Nun würde dieses zarte Pflänzchen in der Gluthitze des Hasses verkümmern, und das erschütterte Salome weit stärker als eine Leiche im Sand.
    Ursprünglich hatte sie vorgehabt, ins griechisch dominierte Sebaste zu fliehen, eine junge, gut gesicherte Stadt im Herzen des Landes. Sie mussten allerdings feststellen, dass Sebaste bereits umzingelt war, daher wichen sie in Richtung des Sees Genezareth aus, schon deswegen, weil ihre Wasservorräte knapp wurden. Nach mehr als dreißig Stunden Ritt gönnten sie sich ihre erste längere Rast. In der Ebene von Megiddo, wo vor Jahrtausenden ein riesiges Pharaonenheer die Völker des Ostens unterworfen hatte, schliefen sie eine ganze Nacht lang durch. Als sie erwachten, waren die sie begleitenden Soldaten bis auf einen einzigen verschwunden.
    Diesem Mann sagte Salome: »Mir wäre es lieber, wenn wenigstens du dich nicht fortschleichen würdest. Das ist entwürdigend. Wenn du gehen willst, dann sieh mir in die Augen und sage es.«
    Er sah sie an – und sagte es.
    Nun waren sie allein.
     
    Zu viert schlugen sie sich bis zum See Genezareth durch, wo sie ein Bad nahmen und so viel Wasser tranken, bis es in ihnen schwappte.
    »Von hier ist es nicht mehr weit bis nach Phönizien«, sagte Menahem. »Wenn wir uns beeilen, sind wir dort, bevor die Sonne untergeht.«
    »Ich verlasse das Land nicht«, sagte Salome.
    »Wie bitte?«
    »Du hast mich verstanden, Menahem. Ihr könnt ja gehen, aber ich werde Judäa nicht

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