Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
verlassen. Nicht jetzt. Nicht in diesem Zustand. Nicht, bevor alle unsere Freunde mit uns kommen können.«
Gilead sah seine Mutter bewundernd an, Menahem dagegen schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ganz Judäa ist in der Hand der Zeloten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand entdeckt, wer wir sind.«
Mit seiner zweiten Bemerkung hatte Menahem zweifellos Recht. Zwar trugen sie einfache Kleidung, hatten den Schmuck abgelegt und jegliche anderen Zeichen von Reichtum und Würden in Ashdod zurückgelassen. Außerdem wimmelte es auf den Straßen und Wegen von Reitern und Wanderern, die quer von Nord nach Süd, Süd nach Nord, West nach Ost und so weiter unterwegs waren, auf der Suche nach Verwandten, Freunden oder einfach einem ruhigen Flecken, wo sie bleiben konnten, bis alles vorbei war. Dennoch ließ sich die vornehme Herkunft der vier nicht völlig verbergen. Salome und Berenike sah man schon an den Händen und Haaren an, dass sie keine Bäuerinnen waren, und die Pferde kamen unübersehbar aus einem hervorragenden Stall. Gilead schließlich fiel durch seine helle Haut auf – in Zeiten, in denen Griechen von radikalen Juden erschlagen wurden, war das nicht ungefährlich.
In einem allerdings irrte Menahem.
»Nicht ganz Judäa ist im Aufstand«, berichtigte Salome. »Ich weiß vielleicht einen Ort, der noch nicht vom Wahn erfasst ist.«
Philippi sah nie schöner aus als an diesem Julinachmittag. Die Pfirsich- und Olivenhaine, die die Stadt wie ein Ring umgaben, standen in voller Frucht, und die gelben Häuser und Türme flimmerten in der Hitze wie eine Fata Morgana. Alles schien völlig friedlich, so als stünde Philippi in einer anderen Welt.
Fast stimmte das ja auch. Die Provinzen östlich des Jordan hatten immer schon ein wenig abseits gelegen. Geographisch gesehen nur einen Sprung von Galiläa entfernt, einem jüdischen Herzland, spielte Basan im Denken der Juden keine große Rolle und war nur selten in deren Bewusstsein gerückt – das letzte Mal, als Philippi, die Stadt der Entrechteten, gebaut worden war. Was für eine Empörung hatte das einst ausgelöst! Unendlich weit schienen diese Tage zurückzuliegen. Fast bekam Salome eingedenk der heutigen Lage Sehnsucht nach den Problemen, die sie damals noch gehabt hatte.
Ihre Ankunft sprach sich in der Stadt rasend schnell herum. Wie einst während des Besuchs mit Agrippa strömten die Bürger auf die Straße und feierten die Gründerin. Der Toparch Philippis, ein Nichtjude, begrüßte sie mit einem Kniefall, ganz so, als sei sie noch Fürstin von Basan.
Dann verdunkelte sich die Miene des Toparchen. »Zwar sammeln die Römer derzeit ein Heer in Phönizien, aber das wird für uns zu spät kommen. Etwa zweitausend Aufständische werden spätestens morgen hier erwartet. Und wir haben keine Mauern.«
Keine Mauern. Diese Offenheit war der Traum von Timon und Kallisthenes gewesen. Philippi sollte einladen, nicht abwehren, Handel treiben, keine Kriege führen.
»Die Zeloten hassen Philippi. Sie werden unsere Stadt niederbrennen«, fuhr der Toparch fort.
»Nur, wenn wir es zulassen«, rief Gilead im Brustton der Überzeugung. Er wusste natürlich, dass sein Vater Philippi gebaut hatte, und er wollte nicht tatenlos dabei zusehen, wie die Stadt, Timons Meisterwerk, in Schutt und Asche sank.
Salome seufzte. »Gilead. Ich möchte Philippi auch gerettet sehen. Aber die Leute hier wissen am besten, ob …«
»Ich habe viele junge Leute auf den Straßen gesehen«, unterbrach er. »Wollen die ihre Stadt nicht verteidigen?«
»Wir sind keine Kämpfer«, erklärte der Toparch .
»Das sind die Aufständischen auch nicht. Sie haben zwar Schwerter, doch sie wissen nicht, wie man damit umgeht.«
Menahem sprang ihm zur Seite. »Der Junge spricht die Wahrheit. Ihr solltet nicht so schnell aufgeben.«
Der Toparch sah Salome an und wartete auf ein klärendes Wort von ihr. Obwohl sie schon lange keine Machtbefugnis mehr in Philippi hatte, unterstellten die Menschen sich freiwillig ihrer Führung.
»Ich habe als Sklave beim Bau Philippis mitgearbeitet«, erklärte der Toparch . »Ebenso die Väter der jungen Leute, von denen dein Sohn sprach. Wir leben hier, Prinzessin, weil du uns diesen Platz geschenkt hast. Sage uns, was wir tun sollen.«
Salome blickte den Mann nachdenklich an, dann Menahem, Berenike und schließlich ihren Sohn. »Also gut«, sagte sie, »verteidigen wir unsere Stadt.«
30
Binnen Stunden formierte sich in Philippi eine Streitmacht von
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