Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
beiwohnten, stellte sich ein Legionär der Besatzung auf eine hohe Mauer des Heiligtums, zog seine Hose herunter und pinkelte auf die Gläubigen. Ein Aufruhr war die Folge. Statt sofort den schuldigen Legionär zu bestrafen – was die Lage beruhigt hätte -, schickte Felix Truppen auf das Tempelgelände, was einen zusätzlichen Frevel bedeutete, und ließ die Menge auseinander treiben. Wenig später handelte er ähnlich, als ein Tribun seiner Truppe in eine Synagoge eindrang und bei einer Durchsuchung auch Hand an den aron ha-kodesh legte, den heiligen Behälter, in dem die Abschriften der thora aufbewahrt werden. Der Offizier zerfetzte die heilige Schrift und spuckte darauf, aber als der zu erwartende Tumult folgte, waren es wieder die Juden, denen Felix die Schuld gab und die er bestrafen ließ.
Den Zeloten verschaffte er dadurch nur noch mehr Zulauf, als sie ohnehin schon hatten. Selbst Juden, die bis dahin Gewalt als Mittel der Befreiung abgelehnt hatten, stellten sich in den Dienst von Sadoqs Sekte, sei es, dass sie römische Truppenbewegungen ausspionierten, sei es, dass sie Christiani und Zelotengegner denunzierten oder sogar selbst zur Waffe griffen. Schlimmer noch als vor vielen Jahren, als Männer vereinzelt Ungläubige oder Gemäßigte niedergestochen hatten, verbreiteten die sicarii , die Attentäter mit dem Krummdolch, Schrecken im ganzen Land. Überfälle auf Dörfer, christliche Versammlungen und auf Karawanen waren an der Tagesordnung, und Felix antwortete auf die Gräueltaten, indem er Verdächtige nach schnellem, zweifelhaftem Prozess ans Kreuz nageln ließ. Sogar Kinder, die sich zu einem Anschlag auf römische Legionäre hatten hinreißen lassen, wurden kurzerhand hingerichtet. Das wiederum steigerte den Hass der Juden und diente den Radikalen als Vorwand, Vergeltung zu üben. Die Römer ihrerseits bezeichneten ebenfalls jede ihrer Maßnahmen als Vergeltung, und schon bald wusste niemand mehr, wer wann welche Vergeltung wofür verübte. Jeder Tag brachte neue Verzweiflung und neues Blutvergießen.
»Irgendwann werden die Gemüter sich wieder beruhigen«, meinte Berenike. »So war es doch immer.«
Salome schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Sieh dir doch nur die Führer der Parteien an, die sich gegenüberstehen. Nach allem, was du und Menahem mir über Sadoq erzählt habt, hatten die Zeloten damals noch so etwas wie einen Kodex und ein konkretes Ziel. Kephallion dagegen führt zwar solche schönen Begriffe wie Freiheit, Gotteswille und Vaterlandsliebe im Mund, aber die sind nur Tarnung für den abgrundtiefen Hass auf alles, was ihm nicht gefällt. Das Schicksal des Volkes kümmert ihn keinen Deut.«
Berenike und Menahem nickten zustimmend.
»Und auf der anderen Seite?«, setzte Salome ihre Einschätzung fort. »Man kann über Herodes, Augustus, Tiberius und Pilatus denken, was man will – ich bin selbst kein Anhänger ihrer kurzsichtigen Politik. Sie hatten jedoch zumindest so viel Verstand, Judäa einen Rest der einstigen Würde zu belassen. Wer hat heute das Sagen bei den Römern? Ein debiler, leicht beeinflussbarer Kaiser mit erheblichen Sprachschwierigkeiten, und ein gefräßiger Prokurator, dessen Fingerspitzengefühl sich mit dem eines brünstigen Büffels vergleichen lässt – womit ich dem Büffel noch Unrecht tue. Dazu kommt, dass die Griechen kräftig gegen die Juden intrigieren und sie bei Felix anschwärzen, wo sie können. Sie provozieren und schieben die Schuld dann auf die Juden. Felix ist natürlich viel zu beschränkt, um das perfide Spiel zu durchschauen.«
Salome regte sich immer mehr auf. »Alles geht hier vor die Hunde, Berenike. Das Land unserer Familie, das Volk, das wir eigentlich beschützen sollten, und niemand steht dagegen auf und gibt dem Frieden eine Stimme. Nicht mal Gott. Wo ist er denn, der Gott, den Gilead vorhin zitierte, unser Schild und Schwert und Glücksbringer und …«
Salome brach abrupt ab und stützte das Gesicht in die Hände. Berenike gab ihrem Mann ein Zeichen, dass er sie allein lassen solle, dann setzte sie sich zu ihrer Freundin und strich ihr zärtlich die Haare aus der Stirn. Sie wusste, Salome war gleichermaßen stark geworden durch die Erfolge und die Verluste ihres Lebens. Wie kein anderer Mensch hatte Salome es verstanden, aus jedem Wind, der ihr ins Gesicht blies, Schwung und Kraft für neue Pläne und Ziele zu finden. Ja, sie war ihr Vorbild gewesen, als sie in der demütigenden Ehe mit Kephallion feststeckte, und sie war
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