Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
überraschender kam dann seine nächste Frage, die so gar nichts mit dem eben geführten Gespräch zu tun hatte.
»Du hast deine Großtante gern, nicht wahr?«
Sie stutzte. »Selbstverständlich. Sie hat mich immer gut behandelt und mir vieles beigebracht, sie hat zu mir und meinen Eltern gestanden, als es uns schlecht ging. Sie ist großartig.«
Timons Wangenknochen mahlten, er blickte weiter in den Himmel. »Ja, das hört sich alles nach einer lieben alten Frau an.«
»Natürlich muss sie als Herrscherin auch manchmal hart sein, das gehört dazu, vor allem, weil sie eine Frau ist und sich doppelt anstrengen muss, die ihr zustehende Achtung zu bekommen. Doch sie war immer gerecht.«
»Gerecht«, flüsterte Timon fast unhörbar in die sanfte Meeresbrise hinein. Dann blickte er Salome an. Sie konnte viel Zärtlichkeit in seinen Augen entdecken, aber da war noch etwas anderes, ein dunkler Schatten.
»Bist du ihr ähnlich?«, fragte er. »Was würdest du anders als sie machen, wenn du ihr nachfolgen solltest?«
Salome dachte nach. »Was sollte ich schon anders machen wollen?«
»Dir fällt nichts ein?«
»Nichts Wichtiges. Ich würde reisen wie sie, einen Hof unterhalten wie sie, das Leben genießen …«
»Kommt auch das Volk in deinen Überlegungen vor, oder denkst du nur an dich selbst?«, fragte er ärgerlich.
Salome zögerte. »Ich … verstehe nicht.«
»Du hast mir erzählt, wie schwierig es für dich war, zu lernen. Willst du es anderen Mädchen nicht leichter machen? Was ist mit den harten Strafen in Judäa? Oder mit der Mitsprache des Volkes bei wichtigen Entscheidungen? Mit der Ablehnung deines Volkes gegenüber den Wissenschaften? Mit den Spitzeln? Mit der Angst, Salome? Die Menschen da draußen fürchten sich vor euch, ist dir das nicht klar?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein. Ich …«
»Ich, ich, ich, das ist alles, woran deine Familie interessiert ist. Nichts verändern, niemandem helfen, keinem vertrauen. Das solltet ihr euch als Motto zulegen. Du wirst einmal wie alle anderen Herodianer werden, und das ist verflucht schade. Denn in dir steckt eigentlich mehr.«
Salome rang um Worte. Ihr war, als hätte jemand aus einer anderen Welt zu ihr gesprochen. Tatsächlich redete man in der herodianischen Familie nie über mögliche Veränderungen in den Gesetzen, denn die stammten immerhin von Gott selbst. Sogar ihr Vater, der gewiss kein Freund von Herodes gewesen war, hatte stets nur den gewaltsamen Stil kritisiert, mit dem die Macht ausgeübt wurde, nicht jedoch die rechtlichen Fundamente. Salome kannte niemanden, der Judäa verändern wollte. Timon war der Erste.
»Womit würdest du denn anfangen?«, fragte sie ihn.
Er überlegte nicht lange. »Mit den Sklaven. Mein Vater hat mich gelehrt, dass kein Mensch einem anderen gehören dürfe.«
Salome nickte. »Das hört sich weise an.«
»Er war auch weise. Leider habe ich ihm das nie gesagt.«
Sie lächelte Timon an. Auch ihr hatte die Behandlung der Sklaven durch ihre Großtante noch nie gefallen, doch erst durch Timon wurde sie wirklich auf deren Schicksal aufmerksam. »Ich verspreche dir, eines Tages gegen die Sklaverei zu kämpfen.«
»Tust du das nur für mich?«
»Auch für dich. Mehr noch für die Sklaven.«
Damit schaffte sie es, wieder ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Vom einen Moment zum anderen fiel alle Nachdenklichkeit von Timon ab, er war wieder heiter, und seine Augen strahlten sie an.
»Entschuldige, wenn ich etwas grob war. Das liegt daran, dass du mir nicht gleichgültig bist. Komm, leg dich eine Weile neben mich. Wir wollen die Stunde genießen, plaudern und träumen.«
Er nahm sachte ihre Hand und zog sie zu sich. Salome legte sich in den weichen Sand und blickte mit Timon in den Himmel. Er hielt weiter ihre Hand umklammert, und obwohl ihr Herz bis in die Kehle pochte, fühlte sie doch eine vollkommene Ruhe. Gleich darauf kam ihr der Gedanke, dass das, was sie in diesem Moment erlebte, Glück hieß.
Hinter einer Düne zwischen Gräsern, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, lugte schon seit einer Weile ein Paar Augen hervor, das jetzt wieder hinter dem Sandhügel verschwand. Kephallion robbte langsam die Düne hinunter, und als er weit genug weg war, stand er auf und klopfte sich zufrieden grinsend den Sand von der Kleidung.
»Volk Israel«, gellte die Stimme Sadoqs über den weiten Platz unterhalb des Tempels des Einen Gottes. Seine Arme erhoben, stand er auf der obersten Stufe vor dem Hauptportal
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