Die Schleier der Salome - Walz, E: Schleier der Salome
dich für diese Zeichnung.«
Sie war außer sich vor Freude. Jemand machte ihr ein Geschenk, nicht Geld oder so etwas, nichts, um sie hübscher zu machen, nichts, was mit Münzen bezahlt worden war, sondern ein richtiges Geschenk, das mit eigener Zeit und Arbeit gefertigt worden war. Sie strahlte ihn an, mochte es auch unschicklich sein. Sie war schon so weit gegangen, dass sie mit ihm im Hain geruht und auf dem Pferd gesessen hatte und nun am Strand lag, kaum mehr als eine Handbreit von Timon entfernt. Sie war froh, hier zu sein. Wie konnte sie auch nicht? Er mochte sie, kein Zweifel. Und was ihre eigenen Gefühle betraf …
Noch einmal schweifte ihr Blick über das halb entrollte Pergament. »Nein«, sagte sie schließlich. »Du müsstest die Rolle zerschneiden, wenn ich eine der Zeichnungen nehme. Das will ich nicht.«
»Gut, dann schenke ich dir die erste Zeichnung«, bot er an. »Den Tempel der Liebesgöttin. So muss ich nur wenig schneiden.«
Sie schluckte. »Der Liebesgöttin?«
»Ist es dir nicht recht? Soll ich …«
»Nein«, rief sie. »Nein, das ist – sehr freundlich.«
Er nickte ihr lächelnd zu. »Ich reiße es dir gleich ab.« Er faltete das Papier zwischen den Zeichnungen und trennte den einen Teil ab. »Hier bitte«, sagte er. »Ich hoffe, du siehst dir die Zeichnung gelegentlich an.«
»Du weißt ja«, schränkte sie ein. »Zeichnungen missfallen dem Herrn, daher muss ich sie versteckt halten. Natürlich sieht der Herr sie auch so, aber Zacharias und meine Eltern nicht, und darauf kommt es an. Ich werde sie ziemlich oft hervorholen, das verspreche ich.«
Er ließ sich rückwärts in den Sand fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte träumend in den Himmel.
Salome blickte nicht weniger verträumt als er.
Er fühlte das, was sie für ihn fühlte, dachte sie. Nichts anderes war jetzt noch wichtig. Eher beiläufig, nur um Timon nicht anzustarren, rollte sie das Pergament weiter auf, betrachtete Mausoleen, Tempel und Brücken, die sie in Italien vermutete. Timon besaß eine große zeichnerische Begabung, fand sie, eine für einen angehenden Architekten nicht unwichtige Fähigkeit. Sie stellte sich vor, wie er herrliche Villen und mächtige Brücken erbaute. Wenn sie erst Fürstin wäre, könnte sie ihm Aufträge verschaffen, er könnte zum Beispiel eine neue Küstenstraße von Jebna nach Askalon ziehen; das wäre für Kaufleute und Reisende eine nützliche Sache. Und dann könnte er die mangelhafte Wasserversorgung in den Städten verbessern, all das, worum sich Herodes nie gekümmert hatte. Und sollte sie eines Tages Königin sein, dann …
Sie erschrak. Sie hatte die Rolle weiter entfaltet und war auf ein ungewöhnliches Motiv gestoßen. Auf den anderen Zeichnungen Timons waren kaum Menschen abgebildet, und wenn, dann nur als kleine Striche auf den Straßen. Wozu auch, wenn er Architekt werden wollte? Doch von dieser Zeichnung blickten sie die Augen eines Mannes an.
Es war ein Gesicht mit kleinen Furchen an den Wangen, Narben auf der Stirn und einem kurzen Bart an Mund und Kinn und bis zu den Schläfen hoch. Ein gewöhnlicher Mann im mittleren Alter, alles in allem. Doch dem Bild haftete deutlich ein persönliches Urteil an. Vor allem an den dunklen, brutal leuchtenden Augen konnte Salome sehen, wie Timon diesen Mann verabscheute.
»Ich kenne ihn«, murmelte sie nachdenklich.
Erst jetzt bemerkte Timon, dass sie die Rolle weiter entfaltet hatte. Er richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand über die Stelle auf seiner Brust, wo sich die Narbe befand. Seine spielerische Fröhlichkeit, seine jugendliche Ausstrahlung waren mit einem Mal wie ausgebrannt. Fordernd fragte er sie: »Woher? Wie heißt er?«
Salome dachte angestrengt nach. »Wie er heißt, weiß ich nicht mehr«, antwortete sie. »Er gehörte vor Jahren zum Gefolge meiner Großtante. Er nahm keine wichtige Stellung ein, glaube ich. Ab und an gab sie ihm einen Auftrag, dann war er eine Weile fort und kam immer wieder zurück. Ich habe ihn jedoch seit – ich weiß nicht mehr genau – seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen. Irgendwann war er weg.«
Timon sah aus, als hätte sie ihm soeben die Antwort eines Rätsels präsentiert. Er legte sich wieder in den Sand und starrte in den Himmel. Er schwieg, und auch Salome spürte, dass sie ihn jetzt nicht mit ihrer Neugier behelligen sollte, obwohl sie darauf brannte, mehr über den Mann zu erfahren und weshalb Timon sich so sehr für ihn interessierte. Umso
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