Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
bist ein Fossil.«
Schmalenbach ging vorzeitig nach Hause. Er wollte allein sein. Allein mit seiner Bibliothek.
Elke war noch wach. Sie saß auf der Couch vor Schmalenbachs Bücherwand und zerdrückte ein feuchtes Tempotaschentuch. Ihr Gesicht war verheult. »Ich habe auf dich gewartet«, begann sie. »Den ganzen Abend ging mir unser Gespräch nicht aus dem Kopf. Ich glaube, ich habe mich unmöglich benommen. Ich weiß doch, dass die Bücher dein Leben sind …«
Schmalenbach nahm ihre Hand mit dem Tempotaschentuch. Er war gerührt, anders kann man es nicht sagen. »Ich will ja auch nicht stur erscheinen«, hauchte er.
»Es ist nur …«
Elke winkte ab, sie wirkte fast heroisch in ihrer Zerknirschung. »Mein Gott, du hast ja auch sonst nicht viel! Andere Männer treiben Sport oder gehen fremd. Oder sie ziehen prächtige Kinder groß. Du bist anders. Und jung bist du auch nicht mehr. Was bleibt ihm vom Leben, habe ich mich gefragt. Wenn man mal von mir absieht, eigentlich wenig.«
Schmalenbach wollte zaghaft protestieren, aber Elke wurde von einem bösartigen Hustenanfall geschüttelt. Sie rannte ins Bad. Schmalenbach kam sich ziemlich rücksichtslos vor. Und das voll geheulte Taschentuch brannte in seiner Hand.
Als sie aus dem Bad zurückkam, war ihre Stirn von knallroten Pusteln übersät. »Das ist nichts«, wiegelte sie Schmalenbachs Fürsorge ab. »Komm mir bloß nicht zu nahe, vielleicht kann man sich damit anstecken!«
»Ich rufe einen Arzt«, stammelte Schmalenbach.
Doch Elke winkte ab. »Lass! Das ist nicht das erste Mal. Eine einfache Hausstauballergie …« Sie machte ein leidendes Gesicht. »Selbst eine noch so fleißige Hausfrau kommt nicht gegen den Staub deiner Bücher an«, klagte sie und ging in einer Haltung zu Bett, die Schmalenbach an Marie-Antoinette erinnerte.
Es war tragisch: Gegen eine Hausstauballergie konnte man nicht auf der Literatur beharren. Die ganze Nacht verbrachte Schmalenbach mit seinen geliebten Büchern. Jedes nahm er noch einmal in die Hand, streichelte es, sagte ihm ein paar persönliche Worte, blätterte ein wenig darin – bis ihm unweigerlich die Tränen kamen. Gegen Morgen fällte er den schwersten Entschluss seines Lebens. Er musste ein Zeichen setzen.
Beim Frühstück verkündete Schmalenbach, bleich und übernächtigt wie eine Mutter, die ihren Lieblingssohn ins Feld schicken musste, dass er sich von einigen Büchern trennen würde. Er hatte sich – trotz grauenhafter Gewissensbisse – gegen die dreibändige Ausgabe von Marx’ Das Kapital entschieden.
Elke küsste ihn und sagte: »Der Große Brockhaus hätte mehr Platz freigemacht.«
»Ich bitte dich, Elke! Eine Enzyklopädie. Das Gedächtnis unserer Gattung.«
»Ins Kapital hast du seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr reingeguckt. Wie ich dich kenne, hast du nie da reingeguckt, sondern immer nur davon geredet …«
»Elke!«, mahnte er. »Jetzt überschreitest du eine magische Grenze.«
»Ich hätte mir gewünscht, dass du mir ein größeres Opfer bringen würdest«, erklärte Elke trotzig. Schmalenbach, dessen Buchopfer symbolisch gedacht war, floh, bevor sie konkreter werden konnte.
Im Antiquariat staunten sie nicht schlecht. Der Verkäufer rief einen Kollegen, sie begutachteten eingehend die Ware, nickten fachmännisch und gaben sie Schmalenbach mit Bedauern zurück. »Wir haben hinten noch zwei Zentner Kapital liegen. Im Übrigen: Mit der Widmung sind die Bücher unverkäuflich.«
Erst jetzt fiel Schmalenbach die etwas krakelige Schrift im ersten Band auf. Meinem dicken Hasen! Er konnte sich nicht mehr erinnern, von wem diese Widmung stammte.
So landete Schmalenbach beim Trödler Schimala. Der wog die Bücher und bot zwei Euro. Schmalenbach nahm den Judaslohn zähneknirschend in Empfang.
An diesem Abend betrank er sich allein. Nur die verbliebenen Bücher seiner Bibliothek durften ihm Gesellschaft leisten, und er schwor sich, nie, nie wieder ein Buch zu verkaufen. In der Nacht schlief er schlecht, er träumte davon, dass seine drei Bände Kapital von einem Möbelhaus erworben wurden, das sie dazu benutzte, seinen billigen Regalsystemen eine bildungsbürgerliche Aura zu verpassen.
Morgens ging es ihm elend. Er dachte zum ersten Mal daran, sich von Elke zu trennen.
Als er sich zwei Tage später wieder ins »Promi« traute, traf er dort einen völlig aufgekratzten Pfeifenberger. »Wo warst du die ganze Zeit? Mann, ich stecke vielleicht in der Bredouille. Du musst mir unbedingt meine Bücher
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