Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
bereits zum fünften oder sechsten Mal.
»Soll ich noch mal Kaffee aufbrühen?«, fragte Elke, als wäre nichts gewesen.
»Man muss es sich einfach zur Gewohnheit machen: Jeden Abend den Anrufbeantworter einschalten und ihn erst wieder abschalten, wenn man für die Öffentlichkeit zu sprechen ist. Im Grunde ist das der letzte Rest an menschlicher Würde, die man sich in dieser totalen Kommunikationsgesellschaft bewahren kann …«
Schon wieder klingelte das Telefon. Immer fordernder.
»Und wenn es etwas Familiäres ist?«, fragte Elke bang.
»Ein Todesfall vielleicht? Oder dein Offenbacher Bruder sitzt wieder im Knast.«
»Der hat in diesen Dingen Routine«, entgegnete Schmalenbach gelassen. »Meine Sippe ist zäh. Aber vielleicht ist deiner Mutter was zugestoßen …«
»Meine arme Mutter ist vorletztes Jahr gestorben, Schmalenbach. Merk dir das endlich!!!«
Das Telefon klingelte schon wieder. Elke starrte den Apparat an. »Vielleicht ist es einer dieser Typen … du weißt schon … diese Kerle, die Frauen anrufen. Um ihnen schmutzige Dinge zu sagen. Sie suchen sich im Telefonbuch die Nummer einer Frau raus und legen los. Widerlich! Ich sage dem Schwein jetzt meine Meinung, der wird sich das nächstes Mal genau überlegen, bevor er eine Frau telefonisch belästigt …«
Sie stand auf. »Stopp!«, rief Schmalenbach.
Elke lächelte nachsichtig. »Du glaubst, es könnte mich verletzen, stimmt’s? Du glaubst, ich bin ein so zartes Wesen, dass ich diese Perversionen nicht verkrafte.« Sie streichelte ihm über den Kopf. »Du bist und bleibst ein großes Kind. Ich will dir was sagen: Solche Anrufe lassen mich kalt. Eine reife, lebenserfahrene Frau wie ich – die steht doch weit über diesen kranken Typen. Heute Abend scherzen wir über die Ungeheuerlichkeiten, die er mir gleich sagen wird.« Das Telefon läutete wieder – diesmal schon kraftloser. »Oder ist es … Eifersucht?«
»Eifersucht?«, rief Schmalenbach aus.
Elke musterte ihn, als hätte sie ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. »Wir sind erwachsene Menschen, und wir wissen, dass diese Kerle nicht nur anrufen. Sie tun ja auch was, während sie mit den armen Frauen sprechen. Es ist für einen Mann nicht einfach hinzunehmen, dass seine Frau mit einem Wildfremdem in diese intime Situation kommt. Aber mach dir keine Gedanken: Ich sehe die Angelegenheit als eine Art Realitätsstudie an. Sachlich und unaufgeregt …«
Jetzt hatte Schmalenbach genug. »Du stehst gar nicht im Telefonbuch! Es steht da bloß Schmalenbach und unsere Nummer. Fertig. Du kommst bei den Perversen nicht mal in die Vorauswahl, Elke.«
»Ich stehe nicht im Telefonbuch?«, fragte Elke tonlos. Sie sprang auf, rannte in den Flur, holte das Frankfurter Telefonbuch und schlug nach. »Wirklich. Schmalenbach. Sonst nichts. Warum, bitte schön, erfahre ich das jetzt erst?«
»Du hast dich ja nie darum gekümmert.«
Das Telefon klingelte. Schwach und hoffnungslos.
Elke steckte sich vor Wut zitternd eine Zigarette an.
»Auf die Gefahr hin, um Stunden zu spät zur Arbeit zu kommen und mir eine Abmahnung einzuhandeln: Kannst du mal erklären, wie du darauf kommst, unser beider Telefonanschluss als Schmalenbach einzutragen?!«
Schmalenbach spürte, dass sich dieses Detail zu einer Staatsaktion auswachsen konnte, und wollte beschwichtigen: »Immerhin: Von fiesen Anrufen sind wir bisher verschont geblieben.«
Elke zog nervös an ihrer Zigarette. »Alle meine Kolleginnen ereifern sich unentwegt wegen unsittlicher Anrufe – und ich sitze dabei wie ein Mauerblümchen …«
Das Telefon klingelte nicht mehr.
»Siehst du«, sagte Schmalenbach versöhnlich. »Jetzt hat er’s aufgegeben. Wahrscheinlich wieder so eine dümmliche Umfrage dieses Meinungsforschungsinstituts, das immer im ZDF-Politbarometer erwähnt wird. Die haben letzte Woche schon mal angerufen.« Er versuchte der Angelegenheit eine kabarettistische Note zu geben, indem er eine Fistelstimme nachahmte. »Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären, wen würden Sie dann wählen? SPD oder CDU? FDP oder Grüne? Oder gar PDS? Lächerlich!«
Elke drückte die halb gerauchte Zigarette in der Butter aus. »Soll das heißen, wir werden nach unserem Wählerverhalten gefragt, und ich erfahre nichts davon?«
Jetzt machte Schmalenbach – aus purer Unachtsamkeit – einen schweren Fehler: »Nicht wir. Ich. Ich wurde gefragt. Herr Schmalenbach.«
Elke wurde rot vor Wut: »Weil ich ja auch nicht im Telefonbuch stehe!«
Schmalenbach
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