Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
trugen Germersheimer herein. Er sah schrecklich aus. Der Gute. Elvira tupfte ihm die Stirn mit 4711 ab. Pfeifenberger flößte ihm Grappa ein. Das half. Nach zehn Minuten saß er wieder an seinem Platz und schaute Schmalenbach stumm an.
Schmalenbach sprang auf. Er rannte hinaus, ohne zu bezahlen.
Am nächsten Tag brachte er den schwarzen Anzug weg. Er ließ ihn färben. Orange. Die Farbe der Liebe – nicht des Todes. Er sah gut darin aus.
Als er ihn nach Hause brachte, saß Elke mit einer Flasche Sekt da. »Onkel Raimund hat uns heute Nacht verlassen, und ich bekomme das Familienservice von Villeroy & Boch. Er hat nicht gelitten. Schön, nicht? Die Beisetzung ist am Sonntag. Drei Ministerpräsidenten kommen und Harald Schmidt. Jetzt kannst du endlich zeigen, was in dir steckt. Wo ist eigentlich dein neuer schwarzer Anzug?«
Marx ist immer blau
Als Schmalenbach mit einer Tüte neuer Bücher nach Hause kam, sagte Elke: »Jetzt ist Schluss, wir platzen hier aus allen Nähten, und du schaffst immer noch Bücher an!«
Schmalenbach stellte die Neuerwerbungen in die letzte Lücke im Regal. Der Größe nach. Die Belletristik links, die Sachbücher rechts. Er begutachtete sein Werk und ward zufrieden.
»Wenn du sie wenigstens aus den verschweißten Hüllen nehmen würdest«, schimpfte Elke und wedelte mit dem Staublappen über die Regale. »Man muss sich richtig schämen, wenn Gäste kommen. Wie in der Tiefkühltheke bei ALDI.«
Schmalenbach musste noch mehr lesen, dann verschwanden auch die Klarsichthüllen schneller. Aber sie gleich nach dem Kauf abreißen – das wollte er auf keinen Fall. Es widerstrebte ihm, ein Buch zu behandeln wie ein Viertelpfund Aufschnitt oder wie eine Packung Süßigkeiten, die man noch hinter der Kasse des Supermarktes verschlang. Bücher mussten reifen. Bücher führten ein Eigenleben. Sie warteten auf den richtigen Zeitpunkt. Auf den Moment ihrer Entjungferung. Dass der Leser an seine Bücherregale trat und genau das Buch hervorzog, das er sich für diesen Tag aufgehoben hatte. Das war dann der Höhepunkt im Leben dieses Buches. Es gab sich ganz und gar in die sachten Hände seines Besitzers, ließ sich von ihm entkleiden und aufschlagen, ließ es zu, dass er die ersten zaghaften Wörter las, eine Einleitung vielleicht, die ihn darüber in Kenntnis setzte, wie er mit diesem einmaligen Werk umzugehen hatte.
Elke verstand von alledem nichts. Sie sah in Schmalenbachs heimlichem Harem ein Altpapierlager, das ihren Zimmerpflanzen die Luft und das Licht nahm und das verhinderte, dass endlich Platz frei wurde für die ersehnte IKEA-Anrichte. Sie musterte Schmalenbach, der stolz, die Hände auf dem Rücken gefaltet wie ein alter Bibliothekar, vor seiner Bücherwand stand. »Du musst dich von einigen Büchern trennen«, verkündete sie.
Schmalenbach fuhr herum »Niemals!«, schrie er. Sein Kopf war hochrot. Elke genoss es, wenn Schmalenbach sich so erregte, zeigte es ihr doch, dass sie immer noch Zugriff auf sein etwas spröde gewordenes Gefühlsleben hatte.
Schmalenbach riss sich den Kragen auf und schnappte nach Luft. »Weißt du, was mit den Menschen geschehen ist, deren Bücher in Antiquariaten stehen?«
Elke strahlte. »Natürlich. Diese Menschen leben in hellen Wohnungen, atmen eine staubfreie Luft, erfreuen sich an ihrer neuen IKEA-Anrichte und haben eine interessante neue Beziehung, weil sie den langweiligen Bücherwurm, der ihre Wohnung und ihren Hormonhaushalt verstopft hat, gleich mit dem Altpapier entsorgt haben.«
»Falsch. Sie haben Selbstmord begangen, haben ihr Gedächtnis verloren oder sind für Jahre ins Gefängnis gewandert.« Schmalenbach zog seinen Mantel über und rannte erzürnt davon.
Pfeifenberger ergriff sofort leidenschaftlich Partei. Allerdings gegen Schmalenbach. »Du nimmst eine völlig unzeitgemäße Haltung ein«, tönte er. »Wer im Zeitalter des elektronisch abrufbaren Wissens noch an seinem Bücherschrank hängt, ist wie einer, der sich eine Kuh im Wohnzimmer hält, damit er morgens Milch im Kaffee trinken kann.«
»Aber das Buch … das ist doch Kultur, das ist erworbenes Wissen, kollektives Gedächtnis … das letzte Bindeglied zur großen Tradition des menschlichen Geistes. Das Buch ist …«
»… ein Anachronismus«, höhnte Pfeifenberger. Und selbst Germersheimer, der neuerdings seine unlesbaren Texte ins Internet stellte, wo sie augenblicklich von allen Surfern gemieden wurden wie ein asiatischer Festplattenvirus, nickte: »Schmalenbach, du
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