Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen

Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen

Titel: Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
Vom Netzwerk:
zu geheuchelter Trauer gegeben hatte, erfreuten sich die älteren Semester plötzlich einer robusten Gesundheit. Und dem neunzigjährigen Onkel Raimund, jahrzehntelang Rundfunkratsmitglied und Besitzer eines von Elke geliebten Villeroy-&-Boch-Services, gratulierten zum Geburtstag der jeweilige Ministerpräsident und der Vorsitzende der Mediengewerkschaft – immer mit einer Träne im Knopfloch, weil es doch, wie jeder wusste, das letzte Mal war.
    Doch selbst eine plötzliche Grippewelle, auf die Schmalenbach große Hoffnungen gesetzt hatte, änderte nichts: Onkel Raimund trotzte dreist dem Virus, und Elke wurde wieder einmal um das ihr versprochene Geschirr gebracht.
    Ja, wollten sie denn ewig leben? Sahen sie nicht, dass die nachwachsende Generation darauf wartete, sie mit Anstand zu ihrem Grab zu begleiten? Eine verlorene Generation, die es nie verwinden würde, dass die Wissenschaft es neunzigjährigen Damen ermöglichte, Mutter zu werden, und hundertjährige Greise pharmazeutisch so bei Laune hielt, dass diese mit ihren Freizeitprodukten Bestsellerlisten verstopften und die besten Frauen zum Traualtar führten, während ihre Söhne und Enkel mit verlebten Sandkastenlieben vorlieb nehmen mussten.
    Schmalenbach wurde immer trübsinniger. Abends sonderte er sich vom Tisch der Freunde ab und trank in der Ecke mürrisch Bier um Bier. Sein Blick wanderte immer wieder hinüber zur Korona der ausgelassenen Zecher. Bitterkeit erfüllte ihn, der noch vor wenigen Tagen so selbstbewusst und voller Zuversicht gewesen war.
    Wenn er allein diesen Pfeifenberger sah. Seit Jahrzehnten schüttete der unglückselige Mensch Unmengen Alkohol in sich hinein. Andere wären längst Opfer einer Leberzirrhose geworden. Pfeifenberger aber schien unsterblich zu sein. Jetzt saß er schon beim sechsten Bier und erzählte dabei auch noch Witze.
    Oder Elvira, die Kellnerin. Eine herbe Schönheit. Aber auch nicht mehr jung. Ihre besten Jahre lagen hinter ihr. Die vielen kurzatmigen Affären mit Mitgliedern diverser Motorradclubs hatten sich tief in ihr Gesicht eingegraben. Doch sie schien alle Ausschweifungen körperlich gut überstanden zu haben. Manche Menschen hatten eben unverschämtes Glück – ohne die Kraft zur Einkehr aufzubringen. Garantiert wartete heute abend wieder einer dieser brutalen Burschen mit seiner Harley auf sie. Und sie ging mit ihm und ließ es geschehen. Widerlich.
    Von Manderscheid gar nicht zu reden. Der bisexuelle Kulturmagnat hatte nicht nur die Phase der hemmungslosen Promiskuität ohne erkennbare Blessuren überstanden, er lebte auch nach seinem ersten Herzinfarkt – eine unglaubliche Chance, die er nicht zu nutzen gewusst hatte – weiter, als wäre nichts gewesen, rauchte, trank Unmengen, fraß sich um den Verstand. Aber es geschah ihm nichts.
    Schmalenbach sah es schon kommen: Wenn das so weiterging, würde er niemals in seinem maßgeschneiderten schwarzen Anzug dem Bruder Tod die gebührende Referenz erweisen können. Es war, als hätte er nie richtig gelebt.
    Schmalenbach durfte seinen schwarzen Anzug wahrscheinlich erst dann tragen, wenn er nichts mehr davon hatte: nämlich auf seiner eigenen Beerdigung. Er würde im vernagelten Sarg liegen und stinken, und keiner würde sehen, mit welcher Grandezza er sich dem Tod stellte.
    Jetzt standen sie auch noch auf und kamen herüber. Die lebenden Toten. Mit ihren Gläsern in den Händen. Unverschämt gut gelaunt. Natürlich taten sie so, als würden sie sich um ihn sorgen. Anstatt das zu tun, was jedes verantwortungsbewusste Lebewesen seit Jahrmillionen tat: zu gehen, wenn es Zeit war.
    »Wir wissen, was dich quält«, begann Pfeifenberger, der Schlimmste von allen.
    »Gar nichts wisst ihr«, zischte Schmalenbach.
    »Seit du diesen schwarzen Anzug hast, bist du gealtert«, fand Germersheimer, der Naivling. »Jawohl, du gehörst einer anderen Generation an.«
    Schmalenbach fuhr ihn an: »Solange ich keine unlesbaren Romane über den Dreißigjährigen Krieg schreibe, die niemand druckt, fühle ich mich noch jung.«
    Germersheimer wurde rot vor Wut und ging.
    Draußen kreischten Bremsen. Ein Knall. Einige rannten hinaus.
    Schmalenbach blieb fast das Herz stehen. Das hatte er nicht gewollt. Es ging ihm doch nur um seinen schwarzen Anzug, um Pietät, um Stil, um innere Reife. Er wollte doch keinen Freund verlieren. Er war den Tränen nahe. Ausgerechnet Germersheimer. Sie hätten ihn und seine unlesbaren Romane über den Dreißigjährigen Krieg noch so gebraucht.
    Sie

Weitere Kostenlose Bücher