Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
Schmalenbach.
»Schmalenbach! Endlich!«, jubelte Gudrun – und fiel Pfeifenberger um den Hals.
Die beiden wurden schnell handelseinig. Pfeifenberger trank nicht mal aus. Er bezahlte, zwinkerte Schmalenbach zu und zog mit seiner Beute ab.
»Sie müssen sich nicht sorgen«, tröstete Schmalenbach Kafka. »Er ist verheiratet und hat sechs Kinder. Es wird sicher nur eine kurze Affäre.«
»Kein Thema«, sagte Kafka. »Wie aber konnte sie nur Pink Floyd mit Deep Purple verwechseln?«
»Ja, die Frauen«, seufzte Schmalenbach. »Man kann ihnen nicht ins Herz schauen.«
»Kein Thema«, sagte Kafka.
Der Schal
Schmalenbachs Schal war weg. Der neue Schal. Der Schal, den Elke ihm geschenkt hatte. Ach was: Geschenkt? Verehrt. Gewidmet. Übereignet.
Schmalenbach sprang auf, tastete seine Manteltaschen ab, griff tief in die Ärmel, ging in die Knie, schaute unter den Tisch und die Stühle und kam wieder hoch.
Um ihn herum war die Welt unverändert. Germersheimer machte sich mal wieder auf dem Bierdeckel Notizen zu seinem neuen Roman. Pfeifenberger hatte seine Hand in Elviras Kniekehlen. Manderscheid telefonierte per Handy mit der Kulturministerin.
Nein, von den Freunden hatte sicher keiner den Schal genommen. Die hatten selbst Schals. Nur – was für welche?
Der rote Schal von Pfeifenberger hatte fingergroße Mottenlöcher. Er gab ihn nur deshalb nicht in die Altkleidersammlung, weil er 1975 damit an einer legendären Demonstration teilgenommen hatte, an der Demonstration gegen … ja, gegen was eigentlich?
Germersheimers Schal stammte vom Grabbeltisch bei C&A. Nur wollte der Literat das nie zugeben. Angeblich hatte ihm eine begeisterte Leserin den lappigen Viskose-Schal geschenkt. Aber das glaubte ihm kein Mensch.
Manderscheids Schal war natürlich aus Seide. Mit Goldfaden. Er trug ihn wie das Kreuz der Ehrenlegion. Der golddurchwebte Schal aus Tibet war im Laufe der Jahre zu Manderscheids Markenzeichen geworden. Keine Talkshow ohne diesen Schal. Karikaturisten, die sich an die Darstellung des Monuments Manderscheid wagten, verfielen zuallererst auf dessen Schal. Einmal hatte sogar einer den Schal ohne Manderscheid gezeichnet und war für diesen Minimalismus von allen Seiten gelobt worden.
Manderscheids Schal hatte nur einen Makel: Er roch komisch. Schon immer. Manderscheid hatte den Schal in alle Reinigungen der Stadt gegeben – und ihn jedes Mal ein wenig lädierter zurückbekommen. Das kräftige, goldene Leuchten war bei einer Schnellreinigung in Bockenheim verschwunden. Den sanften Fall der Seide hatte eine alternative Reinigung im Nordend auf dem Gewissen. Doch trotz dieser erheblichen Einschnitte in die Aura von Manderscheids Schal war eines stets unverändert geblieben: der durchdringende Geruch nach … mittelaltem Gouda.
Warum ein Gebetsschal aus Tibet ausgerechnet nach Gouda roch, konnte selbst der kulturhistorisch bewanderte Manderscheid nicht erklären. Irgendwann sprach ihn auch keiner mehr darauf an, denn erstens fanden alle, dass der penetrante Goudageruch mittlerweile zu Manderscheids Image gehörte, und zweitens spürte man, wie sehr dieser Makel den perfektionistischen Medienmenschen belastete.
Schmalenbach stampfte mit dem Fuß auf und schlug die Faust auf den Tisch. »Jemand hat mir meinen Schal gestohlen!« Alle Gespräche erstarben.
»Ich komme hierher wie in das Haus meiner Mutter.
Ohne Harm. Ich lege meine Seele auf den Tisch. Und was passiert? Jemand klaut mir meinen Schal. Nirgendwo ist man sicher. Nirgendwo herrscht noch Vertrautheit.«
Erschöpft sank er auf seinen Stuhl. Mein Gott, wie sollte er da wieder rauskommen? Wie sollte er Elke je wieder unter die Augen treten können?
Schmalenbach bäumte sich auf. »Also, ich bin kein Unmensch. Ich weiß auch, dass jeder Täter seine Geschichte hat, seine Biografie, seine Verletzungen. Ich will niemanden verdammen. Ich gehe jetzt auf die Toilette. Vielleicht war es ja bloß ein Scherz.« Er lachte künstlich.
»Vergeben und vergessen. Ich bin in vier, fünf Minuten zurück. Wenn dann mein Schal wieder über dem Stuhl hängt, gebe ich einen aus. Und wir tun so, als wäre nichts gewesen. Einverstanden? Wir sagen, es war ein Spiel.«
Er stand auf und ging hinaus.
Schmalenbach sah sein Gesicht im Spiegel der Toilette. Etwas war in ihm zerbrochen. Nie mehr würde er so unschuldig hierher kommen können. Nie mehr würde er über Germersheimer lachen können, nie mehr würde er hier jemandem unbefangen auf die Schulter klopfen
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