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Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen

Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen

Titel: Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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können, ohne daran zu denken, dass der seinen Schal, den Schal, den Elke ihm geschenkt hatte, gestohlen haben könnte.
    Das Leben machte keinen Spaß mehr.
    Als er das »Promi« wieder betrat, war alles wie sonst. Sie tranken, quatschten, lachten, fassten sich unter den Tischen an, gaben sich einen aus, ließen sich aushalten. Als wäre nichts gewesen.
    Und über der Lehne seines Stuhles hing – kein Schal.
    »Dieter – holst du bitte die Funkstreife!«, forderte Schmalenbach den Wirt auf.
    Sofort brandete Empörung auf. Die Funkstreife! Wegen eines Schals! Das konnte man doch unter sich regeln. Man war doch unter Gleichgesinnten.
    Manderscheid erhob sich. Er kam mit weit ausgebreiteten Armen auf Schmalenbach zu. »Liebster Freund«, trällerte er. »Die Zeiten sind nicht so, als dass ausgerechnet wir uns wegen einer solchen Lappalie entzweien sollten.« Mit ganz großer Geste legte er Schmalenbach seinen tibetanischen Seidenschal um den Hals.
    »Ich schenke meinem Bruder Schmalenbach hiermit meinen Gebetsschal«, verkündete Manderscheid der versammelten internationalen Presse. Eine Woge des Beifalls überrollte ihn.
    Schmalenbach bekam keine Luft mehr. Der Geruch nach mittelaltem Gouda schnürte ihm den Hals zu . Er riss sich Manderscheids Geschenk vom Hals – und atmete erst einmal tief durch. »Ich will keinen fremden Schal, ich will meinen. Elke hat ihn mir geschenkt. Ihr wisst, wie sie ist: Wenn ich mit einem anderen Schal nach Hause komme, wittert sie wer weiß was. Mal ganz abgesehen davon, roch der Schal, den sie mir geschenkt hat, nicht nach Gouda …«
    Manderscheid lief rot an. »Willst du damit sagen, dass mein Schal nach Gouda riecht?«
    Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Schmalenbach ruderte erschrocken zurück. »Das ist nur so eine Redensart. Aus dem Niederländischen … Du weißt ja: der Volksmund.«
    Damit gab sich Manderscheid mürrisch zufrieden. Doch nun stellte sich Pfeifenberger in Positur. »Hast du überhaupt einen Schal dabeigehabt? Oder machst du dich nur wichtig?«
    Schmalenbach war ein Intellektueller. Ein Intellektueller wie Schmalenbach bewies auch dann Stil, wenn man ihm seinen Schal, seinen einzigen und liebsten Schal, stahl. Ein Intellektueller wusste, wann es Zeit war zu gehen. Aber nicht ohne denen, die es anging, in aller Sachlichkeit zu sagen, dass er sie für Ungeziefer hielt und er sie nie wieder sehen wollte.
    Dann lief der Intellektuelle ziellos durch die Nacht und fragte sich immer und immer wieder, wieso er diesem Großmaul Pfeifenberger nicht die Fresse poliert hatte.
    Schließlich aber siegte sein Geist. Er resümierte das Geschehene objektiv und leidenschaftslos. Sie hatten ihm seinen Schal gestohlen. Das war alles. Deshalb ging die Welt nicht unter.
    Es war bloß das Ende einer Ära. Das Ende der Jugend. Das Ende der Freundschaft. Zwischen denen, die dort saßen und sich jetzt vor Vergnügen auf die Schenkel klopften, und ihm gab es nun einen unüberwindbaren Graben.
    Er würde leben wie ein Eremit. Kein Bier, keine Freunde, keine geselligen Abende mehr. Er hatte sich weiterentwickelt. Und wenn man es recht überlegte: Die Sache mit dem Schal war doch nur der Anlass. Eigentlich war schon lange der Wurm drin.
    Erstarben nicht die Gespräche am Tisch seiner vermeintlichen Freunde, wenn er das »Promi« betrat? Fanden die Menschen, mit denen ihn eine Seelenverwandtschaft zu verbinden schien, nicht schon seit langem Dinge, die ihm heilig und ernst waren, zum Quieken? Und verbiss er sich nicht oft genug das Lachen, wenn Pfeifenberger und Konsorten pathetisch wurden – zum Beispiel bei der Bundesliga, Prostatabeschwerden und ihren angeblichen Erfolgen bei Frauen?
    Nein, ein Mann musste wissen, wann es Zeit für einen Schlussstrich war. Aus Sentimentalität hatte er schon zu lange gezögert: Elke hatte Recht, diese verkommene Gesellschaft tat ihm nicht gut. Sie war, um es deutlich zu sagen, seiner nicht würdig.
    Apropos Elke: Der Verlust des Schals würde ihr unsagbar wehtun. Wenn sie aber auch noch erfuhr, dass man Schmalenbach den Schal ausgerechnet dort gestohlen hatte, wo sie keinen Fuß hinsetzte, nämlich im verhassten »Promi«, würde sie noch mehr leiden.
    Nein, Schmalenbach musste sie schützen. Er erfand in dieser Nacht eine wasserdichte Geschichte, die es Elke leichter machte. Sie handelte von einem Mann, der mit seinem Schal einsam durch die nächtliche Großstadt streifte, weil ihm die Ungerechtigkeit, die in dieser Welt herrschte, den

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