Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
Schlaf raubte. Und von einem alten Mütterchen, einer aufrechten polnischen Putzfrau, die zwei Kriege mitgemacht hatte und von ihrem Arbeitgeber wegen steuerlicher Unabsetzbarkeit freigesetzt worden war. Und davon, dass sie nun an einer dunklen Ecke stand und wie ein Schneider fror. Dieser Mann konnte es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, die arme Babuschka der schneidenden hessischen Kälte auszusetzen.
Das würde Elke verstehen. Blieb ihm nur zu hoffen, dass ihr in den nächsten Tagen kein dreister Pfeifenberger oder dämlicher Germersheimer mit seinem Schal um den Hals über den Weg lief. Aber es gab kein wirkliches Glück ohne Risiko.
Natürlich schlief Elke schon. Schmalenbach vertagte das Geständnis bis zum Frühstück. Er weinte sich still in den Schlaf – so einfach war es nicht, sich nach fünfundzwanzig Jahren von seinen Freunden zu trennen, auch wenn sie falsch und verkommen waren.
Beim Zähneputzen am nächsten Morgen beschloss er, nach dieser einen humanitären Lüge Elke nie, nie wieder einen Bären aufzubinden. Es gab eben kein wahres Leben im Falschen.
Elke saß schon beim Frühstück. Sie hatte es eilig.
»Du glaubst nicht, was gestern Abend geschehen ist«, begann Schmalenbach nach dem ersten Schluck Kaffee.
Elke verdrehte die Augen. »Ich bin spät dran, also verschon mich mit deinen Kneipengeschichten!« Sie zog sich den Lippenstift nach, warf Schmalenbach eine Kusshand zu und war draußen.
Schmalenbach nahm diese purgatorische Verzögerung als eine gerechte Strafe dafür hin, dass er so lange nicht auf ihre Ermahnungen hinsichtlich seines schlechten Umgangs gehört hatte. Wenn er ein Gerechter werden wollte, musste er eben leiden. Doch er war bereit dazu. Heute Abend würde er ihr Gedichte von Benn vorlesen, mit ihr Hagebuttentee trinken und sich ihr irgendwann offenbaren.
An diesem Tag begann für Schmalenbach das Alter.
»Damit ich’s nicht vergesse«, rief Elke aus der Diele.
»Du musst die Sachen aus der Reinigung abholen. Ich komme heute nicht dazu.«
Schmalenbach seufzte. Auch das würde er tun. Überhaupt würde der Haushalt die letzte Leidenschaft seines Lebens werden. Elke stand wieder in der Küche und hielt ihm den Reinigungsbon hin. »Dass du es nicht vergisst! Dein Schal ist auch dabei, der stank ja schon wie eingelegt.«
Die Totaloperation
Schmalenbach grübelt oft darüber nach, ob es zwei Sorten Menschen gibt. Die, die seine Sprache sprechen, und die, die das nicht tun. Mit manchen Menschen parliert Schmalenbach stundenlang, mit anderen kommt er verbal auf keinen grünen Zweig, so sehr er sich auch abmüht.
Neulich ging er morgens zum Bäcker. Frisch geduscht, ausgeschlafen und mit den besten Vorsätzen. Er bestellte seine Brötchen, und die Verkäuferin sagte unvermittelt Sätze wie »Ich spür’s schon, heute wird’s regnen« oder »Die in Berlin werden sich schon etwas dabei gedacht haben, als sie die Steuerreform verabschiedet haben, fragt sich nur, was«.
Schmalenbach hatte weder etwas gegen die Steuerreform noch gegen das Wetter einzuwenden. Sein Hirn arbeitete fieberhaft. Was sollte er entgegnen?
Noch ehe er eine Antwort parat hatte, ging es weiter:
»Schon gehört? Die Frau Seesterhenn hatte eine Totaloperation. In Offenbach. Sie schwärmt von dem Chirurgen.«
»Eine Totaloperation?« Schmalenbach versuchte sich eine Vorstellung davon zu machen, was das medizinisch, psychologisch und sozial für Frau Seesterhenn hieß. Doch noch ehe er zu einem befriedigenden Ergebnis kam, traf ihn die nächste Breitseite: »Was ist eigentlich mit Ihrer Frau Elke? Alles in Ordnung?«
Schmalenbach blieb das Herz stehen. »Was soll mit ihr nicht in Ordnung sein?«
»Was Frauen halt so haben. Übrigens: Der Charlotte Seesterhenn ihr Mann, der ist ja jetzt auch arbeitslos.«
Ein schwarzer Tag. Auch das noch. »Was meinen Sie mit ›auch‹?«
»Habe ich ›auch‹ gesagt?«, fragte die Verkäuferin und tippte Schmalenbachs Brötchen ein.
»Sie haben gesagt, der Mann von Frau Seesterhenn ist jetzt auch arbeitslos. Auch! Das bedeutet, Sie spielen darauf an, dass vorher schon jemand arbeitslos geworden ist.«
Die Verkäuferin schaute ihn ungläubig an. »Haben Sie nichts davon gehört? Es gibt schon Millionen davon. Obwohl, die meisten wollen ja nicht arbeiten.«
Sie packte der alten Frau Kimmling, die so schaute, als hätte sie seit der Währungsreform beim Brötchenkauf nichts Irritierenderes mehr erlebt als an diesem Morgen, ihre Brötchen ein und
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