Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
Schmerzen unerträglich werden, sagen Sie es, und wir setzen eine lokale Anästhesie. Einverstanden?«
Nein, Schmalenbach war beileibe nicht einverstanden, aber sein Mund war voll mit Saugern, Tupfern und fremden Fingern.
Das ohrenbetäubende Geräusch des Bohrers versetzte ihn in Panik. Dann berührte die Bohrerspitze seinen Zahn. Sie drang in seinen Kiefer ein, als wäre er aus Butter, machte eine scharfe Kurve, eilte zur Wirbelsäule, bohrte sich durch zwanzig Wirbel und gelangte im Lendenwirbelbereich in den Bauchraum. In dieser Phase der Vivisektion waren die Schmerzen selbst für einen Schmalenbach nicht mehr auszuhalten.
Er sagte es ihr. Das heißt, er wollte es ihr sagen. Aber der Bohrer in seinem Mund hinderte ihn daran. Schmalenbach würgte.
Frau Dr. Schubiak setzte einen Moment ab und sagte ernst: »Wenn das, was Sie mir sagen wollen, nicht unmittelbar mit der Behandlung zu tun hat, würde ich Sie bitten zu warten.«
Die gequälte Kreatur brachte in einer übermenschlichen Anstrengung einen Laut hervor.
»Also, für politische Diskussionen ist das nicht der richtige Augenblick«, sagte Frau Dr. Schubiak und führte ihren Bohrer quer durch Schmalenbachs Kniegelenke. Er röchelte.
»Gleich vorbei«, sagte Frau Dr. Schubiak. »Ich sprenge nur noch das Karies über dem Nerv. Kann sein, dass das ein wenig piekt. Aber Sie sind ja ein ganzer Kerl, oder?«
Die Spitze des Bohrers bohrte sich in Schmalenbachs Hirn fest. Der Schmerz drohte ihn wahnsinnig zu machen, er zappelte kurz mit den Füßen und verlor das Bewusstsein.
»Tut’s weh?«, fragte die Zahnärztin. »Ich töte den Nerv ab, dann kommt eine Füllung drauf.«
Ihr Kopf versank in Schmalenbachs Rachen. Er drohte an Frau Schubiak zu ersticken. Dann wollte er nur noch eines: eine Spritze und in Frieden sterben.
»Das war doch nicht schlimm, oder?«, fragte die Schubiak. »Und ganz ohne Spritze. Gratuliere. Wenn alle so wären, würden unsere deutschen Krankenkassen anders dastehen.«
Nach einer halben Stunde konnte Schmalenbach schon wieder gehen. Schade nur, dass ihm die rechte Gesichtshälfte fehlte. Nach nur einer Stunde konnte er Farben unterscheiden und seine Adresse memorieren. Vier Stunden später trank er einen Schluck Bier. Es bekam ihm. Dann fiel ihm ein, dass er soeben eine langwierige Zahnbehandlung hinter sich gebracht hatte. Ohne Spritze! Das musste man sich mal vorstellen: Ohne Spritze!
Wenn man bedachte, welche Heidenangst selbst couragierte Charaktere vor dem Zahnarzt hatten, so war Schmalenbachs stoische Haltung ein Beispiel übermenschlicher Selbstbeherrschung. Ein Beweis dafür, dass ein überlegener Geist Schmerzen besiegen konnte, die den Normalmenschen in den Wahnsinn trieben.
»Ich war heute beim Zahnarzt«, erklärte Schmalenbach im »Promi«. Es lag ihm nicht, aus seiner Leistung eine große Angelegenheit zu machen.
»Ich habe mir einen Zahn aufbohren lassen müssen.«
Die Freunde sollten bloß die Tatsache zur Kenntnis nehmen. Welche menschliche Tragödie dahinter stand, wollte er ihnen nicht sagen.
»Ich habe die Behandlung übrigens ohne Betäubung absolviert. Eine ganz bewusste Entscheidung. Es hat mit Selbstbeherrschung und sozialer Verantwortung zu tun.«
Er wollte bloß ein gutes Beispiel abgeben. Keine Bewunderung, keinen Ruhm. Einfach ein Vorbild sein.
»Es hat ziemlich wehgetan. Aber ich habe die Spritze abgelehnt, die Frau Dr. Schubiak mir setzen wollte. Unter Tränen hat sie mich angefleht: Bitte akzeptieren Sie eine Betäubung, ich stehe das sonst nicht durch!«
Pfeifenberger schaute auf. »Bei der Schubiak warst du? Da gehen doch jetzt alle hin.«
»Man muss halt starke Nerven haben, um ihren Behandlungsstil zu verkraften.«
»Sie macht’s ohne Spritze, stimmt’s?«
»Ich rede nicht gerne darüber in der Öffentlichkeit …«
»Deshalb ist sie doch so erfolgreich. Der Kulturdezernent geht mit seiner ganzen Referentenblase hin, ebenso die Intendanz des HR. Alle sind begeistert. Zahnbehandlung ohne Spritze – das ist der Renner. Tja, die Zeiten haben sich geändert, Schmalenbach. Die Leute wollen wieder zeigen, was in ihnen steckt. Die Phase der Verweichlichung ist vorbei.«
Schmalenbach konnte es nicht fassen. »Du meinst vielleicht Zahnsteinentfernung oder Mundspülung. Bei mir handelte es sich um einen schwierigen Eingriff …«
Doch Pfeifenberger lachte ihn aus. »Der wetterfühlige Manderscheid, der früher eine ganze Fete mit seinem Hühneraugenleiden in Angst und Schrecken
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