Die schlimmsten Dinge passieren immer am Morgen
aber keine medizinischen Leistungen in Anspruch. Er war besonders stolz darauf, dass ihm der Vertreter seiner Krankenkasse von der anderen Straßenseite aus zuwinkte.
Kürzlich aber spürte Schmalenbach einen Schmerz. Der Schmerz ging von einem Backenzahn unten rechts aus und setzte sich bis ins Innenohr fort. Schmalenbach dachte zuerst, es handele sich um eine gemeine Erkältung, und kämpfte mit heißem Bier dagegen an. Als es nicht besser wurde, trank er abends nach dem heißen Bier noch zwei kalte Schnäpse. Das kostete Überwindung. Wenn nämlich die kalten Schnäpse den Backenzahn unten rechts berührten, von dem der Schmerz ausging, so spürte Schmalenbach den hinterhältigen Effekt bis in die Zehenspitzen. Er wertete das als gutes Zeichen: Sein Organismus kämpfte.
Schmalenbach erhöhte die Dosis sogar auf vier Schnäpse – wenn es um seine Gesundheit ging, war ihm kein Opfer zu groß. Das half dann auch. Der Schmerz verzog sich aus dem Zahn, verschwand hinter dem rechten Ohr und endete am Hinterkopf.
Schmalenbach hatte wieder einmal gesiegt. Mit eisernem Willen, einem wachen Sinn für die Bedürfnisse seines Körpers – und Eckerts Wacholder.
Doch in der folgenden Nacht kam der Schmerz hinter dem linken Ohr wieder hervor. Von dort setzte er sich in den linken Unterkiefer fort und landete prompt in dem Zahn, von dem aus er zweieinhalb Wochen vorher seine Odyssee begonnen hatte. Diesmal wütete er noch schlimmer. Schmalenbach tat kein Auge zu.
Als Elke ihn morgens sah, sagte sie: »Deine Backe ist ja ganz dick. Du musst zum Zahnarzt.«
Da war sie bei Schmalenbach an den Falschen geraten:
»Ich? Zum Zahnarzt? Zahnärzte sind was für Schulkinder und Greise. Ein erwachsener Mann braucht keinen Zahnarzt.«
»So etwas kann den Herzmuskel angreifen, wenn Eiter im Spiel ist«, warnte Elke.
»Propaganda der Zahnärzte. Damit die sich ihre Gestüte, Yachten und Ferienhäuser in der Toskana leisten können. Nicht mit Schmalenbach!«
In diesem Moment brach in Schmalenbachs Unterkiefer ein Damm. Es war wie bei einem Steckschuss. Er hätte schreien können vor Pein. Nein, er schrie. Elke wählte die Nummer der Gemeinschaftspraxis, in der sie sich ihre zahlreichen Brücken und Kronen hatte einsetzen lassen, die Schmalenbach mit seinen Kassenbeiträgen finanzierte.
»Was soll mein Versicherungsvertreter von mir denken?«, jammerte er.
Doch Elke hatte bereits einen Termin für ihn. In einer Stunde. Bei einer Zahnärztin. Einer gewissen Frau Dr. Schubiak. »Oder hast du etwa Angst vorm Zahnarzt?«, fragte Elke.
Schmalenbach sprang auf. »Ich und Angst vorm Zahnarzt? Ich gehöre noch zu der Generation von Deutschen, deren Milchzähne mittels eines Fadens gezogen wurden, der an der Türklinke hing, meine Liebe. Ich bin nicht so verweichlicht wie die jungen Leute heutzutage.«
Elke verschränkte die Arme über der Brust. »Gut, dann beweis deinen Mut und geh!«
Schmalenbach saß im Wartezimmer und wartete. Seine Hände waren feucht. Wie es allein schon roch in dieser Praxis …
»Herr Schmalenbach, bitte!«, flötete die Sprechstundenhilfe.
»Aber ich bin doch gerade erst gekommen …«
»Frau Dr. Schubiak erwartet Sie.«
Die Zahnärztin sah mit ihrer Plexiglas-Maske wie ein Schweißer aus. Sie bugsierte Schmalenbach auf einen Stuhl. Ehe er sich versah, war er in der Horizontalen. Sie zog Gummihandschuhe über und schaute in seinen Mund. »Der ist ja völlig kariös«, sagte sie und griff nach dem Bohrer.
Schmalenbach schnellte hoch. »Das kann nicht sein. Ich lebe ausgesprochen gesund.«
Doch Frau Dr. Schubiaks Bohrer summte schon. Schmalenbach fügte sich in sein Schicksal.
Es war ja auch nur der kurze Schmerz der Spritze. Ein ekelhaftes Stechen, das durch Mark und Bein ging. Dann trat die Taubheit ein. Oder sollte er auf einer Totalanästhesie bestehen? Bei einem derart schwierigen Eingriff war das angebracht. Er würde in einer Stunde aufwachen, und die Sprechstundenhilfe würde seine Hand halten und ihn anlächeln.
»Sie brauchen doch keine Spritze, oder?«, fragte Frau Dr. Schubiak plötzlich.
Schmalenbach war wie gelähmt. Keine Spritze? An was für eine Sadistin war er da geraten? Seit dem frühen Mittelalter wurden Zahnbehandlungen unter Narkose vorgenommen. Er wollte etwas sagen, aber der Schock verschloss ihm die Lippen.
»Sie sind ein stattlicher Mann, der hält was aus«, sagte Frau Dr. Schubiak und beugte sich über Schmalenbachs Mundhöhle. »Wir fangen einfach an – und wenn die
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