Die Schlucht
»Und jetzt wollen Sie bestimmt, dass ich Ihnen in meinem Wagen folge, wenn Sie die junge Dame nach Hause fahren.«
»Ganz genau, aber sie darf das auf keinen Fall bemerken.«
»Das versteht sich doch von selbst.«
Tweed verließ das Büro und ging hinunter zu Paula und Lisa. Sie stiegen in Tweeds Audi, der direkt vor dem Haus parkte, wobei Tweed sich ans Steuer setzte und die beiden Frauen sich auf die Rückbank.
Tweed fand es seltsam, dass Lisa zur Miete wohnte und sich nicht, wie viele andere aus dem Bankgewerbe, kurz vor dem Immobilienboom noch ein Eigenheim gekauft hatte. Er selbst hatte das auch getan, und zwar ebenfalls in der Nähe der Bexford Street.
»Jetzt die nächste Seitenstraße«, sagte Lisa in dem Moment, als sie an Tweeds Haus vorbeifuhren. »Danach gleich wieder links, und dann sind wir auch schon da.«
Während Tweed den Wagen um die Ecke lenkte, fragte er sich noch einmal, weshalb Lisa Clancy sich wohl schuldig fühlte. Aber das, was ihn in der Lynton Avenue erwartete, ließ diese Frage zunächst in den Hintergrund treten.
1
»Da wohne ich«, sagte Lisa von hinten. »Im letzten Haus vor der Kurve.« Sie blickte aus dem Fenster die Straße entlang. »Was, um Himmels willen, ist denn das?«, schrie sie und deutete mit entsetztem Gesicht nach vorn. Die Tür des Hauses neben dem ihren war mit gelb-schwarzem Polizeiabsperrband abgeriegelt, und vor der Schwelle lag ein mit einem weißen Tuch bedeckter regloser Körper.
»Bleiben Sie im Auto«, befahl Tweed und stieg aus. Während er auf das Haus zutrat, streifte er sich ein Paar Latexhandschuhe über, die er immer bei sich hatte. Weit und breit war kein Polizist zu sehen.
Er ging neben der Leiche in die Hocke und hob das Tuch. Die Tote war eine gut gekleidete Frau, die wohl Ende dreißig oder Anfang vierzig sein mochte. Tweed hob einen ihrer Arme, der schlaff wieder herunterfiel. Die Leichenstarre war offenbar bereits wieder abgeklungen - was bedeutete, dass die Frau vermutlich in der Nacht ermordet worden und schon seit mehreren Stunden tot war.
Quer über den schlanken Hals der Frau klaffte ein tiefer Schnitt. Offenbar hatte ihr jemand von einem Ohr zum anderen die Kehle aufgeschlitzt, aber das war nicht das Schlimmste an dem grässlichen Anblick, der sich Tweed bot. Stirn, Wangen, Nase und Kinn der Frau waren von unzähligen Schnitten mit einem Messer oder einem anderen Instrument regelrecht zerfleischt worden, so dass man auch beim besten Willen nicht erkennen konnte, wie es vielleicht einmal ausgesehen haben mochte. In seiner ganzen Laufbahn bei Scotland Yard und dem SIS hatte er noch nie ein derart grausam entstelltes Gesicht gesehen.
»Das ist ja grauenvoll«, ließ sich auf einmal Paulas Stimme von hinten vernehmen. »Keine Sorge - ich habe Lisa im Auto gelassen und alle vier Türen verriegelt.«
Tweed zog rasch das Tuch wieder über das verunstaltete Gesicht. Er erhob sich, stieg die Stufen hinab und ging den Gehsteig entlang zu Lisas Haus. Dort war nichts Auffälliges zu sehen, aber als er um die Ecke gegangen war, entdeckte er, dass vor der Eingangstür des nächsten Hauses ebenfalls eine mit einem Tuch zugedeckte Leiche lag. Auch hier war kein Polizist in der Nähe.
Tweed, der noch immer seine Latexhandschuhe trug, stieg die Stufen nach oben und hob das Leintuch hoch. Wie bei der vorherigen Leiche handelte es sich auch hier um eine Frau, etwa so alt wie die andere Tote und ebenso schick und teuer gekleidet wie sie. Sie hatte blonde Haare, und ihr Gesicht war auf dieselbe entsetzliche Weise entstellt wie das der ersten Toten. Auch ihr hatte das Mordinstrument tiefe, an den Rändern hässlich ausgefranste Schnitte zugefügt, aus denen Blut geflossen war, das inzwischen schwarz und klumpig getrocknet war. Die Todesursache schien ebenfalls ein Schnitt quer über die Kehle gewesen zu sein, und der Tod dürfte auch bei ihr vor einigen Stunden eingetreten sein, wie Tweed durch ein Anheben des linken Arms feststellte.
Während Tweed nachdenklich die Leiche betrachtete, flog auf einmal die Haustür auf, und ein dicker Mann in Polizeiuniform kam heraus, den Tweed und Paula auf den ersten Blick erkannten. Chief Inspector Reedbeck.
»Um Himmels willen!«, flüsterte Paula, die hinter Tweed getreten war. »Der Katastrophenbulle!« Das war ihr Spitzname für den unfähigsten Polizisten, der ihnen je über den Weg gelaufen war.
»Was haben Sie denn hier zu suchen?«, raunzte Reedbeck und starrte die beiden unter dem Schirm seiner
Weitere Kostenlose Bücher