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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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Ernte war eine Zeit, in der dem Menschen in einer ohnehin entbehrungsvollen und arbeitsreichen Welt gar
keine Ruhe vergönnt war. Immerzu mit der Furcht im Nacken, einem nahenden Unwetter und der Zerstörung des gesamten, mageren Ertrages zuvorzukommen, wurde Tag und Nacht gearbeitet. Mit krummem Rücken, die Sichel in der Hand, blutige Schwielen an den Fingern, schnitten die Männer das Getreide, die Frauen folgten ihnen, die Garben bindend und möglichst darauf bedacht, dass ja keines der Körner aus den reifen Ähren fiel.
    Erst in der Dunkelheit kehrte man zurück zum Hof und verrichtete dort all die Arbeit, die nicht getan werden konnte. Die Tiere und Kinder mussten versorgt, das Essen bereitet, das Holz gehackt, das Wasser geholt, die Wäsche gewaschen, Reparaturen erledigt werden.
    In diesen besonders harten Wochen fielen die gemeinsamen Abende, der einzige Zeitvertreib der Menschen, das Zusammensitzen aller in einem Raume und das Erzählen von Geschichten und Neuigkeiten, aus.
    War jedoch die Ernte eingefahren, das Getreide trocken geblieben und gut in der Scheune verstaut, so setzte eine kurze Zeit der Ruhe ein. In dieser Zeit der Ruhe, nachdem alles Tageswerk verrichtet war, kam man endlich wieder zusammen, blieb des Abends länger sitzen, trank und erzählte sich wieder Wahres und Erfundenes. Denn was sonst erfreute das Herz eines Menschen, der nichts anderes kannte als die unermüdliche Wiederkehr der Jahreszeiten mit der unermüdlichen Wiederkehr der stets gleichen, harten, aber notwendigen Aufgaben – was erfreute das Herz eines solchen Menschen mehr, als von Dingen zu hören, die anders waren, die Leben und Abwechslung in den tristen Alltag brachten? Man gierte nach diesen Erzählungen. Und je grausamer, gruseliger und unanständiger sie waren, desto größer war das Interesse von Groß und von Klein.
    Inga, Tochter des Meinrad, hatte das Unglück auf sich gezogen,
in diesen besagten Runden, die nach Einfuhr der Ernte auch einmal in sippenübergreifendem Kreise stattfanden, als ständiges Thema auserwählt zu sein.
    Nicht gut wurde über sie gesprochen. Wenige Wochen zuvor war sie die Heldin, die gute Fee, welche die Tollwut bekämpft und Leben gerettet hatte. Doch der Grat zwischen einem guten und einem schlechten Leumund war ein schmaler. Besser war es, wenn man es verstand, sich so zu verhalten, dass niemals jemand über einen sprach, dass man still und unscheinbar sein Dasein fristete und weder im Guten noch im Bösen auf sich aufmerksam machte.
    Das war Inga noch nie gelungen, denn dazu war sie in die falsche Familie hineingeboren, hatte den falschen Mann geheiratet, war zu früh zur Witwe geworden und musste das nicht immer angenehme Schicksal erdulden, einem schönen Spiegelbild entgegenzublicken.
    Die Ereignisse um die Meinradschen und die Hilgerschen hatten, bis auf wenige Harmlosigkeiten, jahrelang geruht. Nun war der Blutstreit seit einigen Monaten wieder ausgebrochen, es hatte Tote gegeben, Verschollene, Sachwerte waren zerstört worden – und an all dem gab man verschiedenen Verdächtigen die Schuld. Neben Geistern und Unholden war immer wieder der Name Inga ins Spiel gebracht worden. Jetzt jedoch häufiger denn je, und die Reime, die man sich aus den einzelnen Geschichten über sie machte, die ergaben durchaus ein zusammenpassendes Bild. Passend jedoch nur in dem Sinne, als dass alles sich zu einem reibungslosen Ganzen fügte, was am Ende nahezu unanfechtbar gegen die einsame, schöne Witwe sprach.
    Nach drei gemeinsam verbrachten Abenden in der Siedlung im Tal, zu der mittlerweile auch Menschen aus einem Umkreis von einem halben Tagesmarsch kamen, war man davon überzeugt, dass Inga die alleinige Schuld an allem jüngst Geschehenen
trage. Und ihr Motiv war Rache. Nicht nur Rache für den schmählichen Tod ihres Ahnen Bero, sondern auch ihre persönliche Rache an den Männern, die sie verführt hatte, von denen sie schlussendlich jedoch betrogen oder verschmäht worden war. Opfer waren die drei Hilgersöhne, und Opfer war auch die arme Uta, die, anders als Inga, fruchtbar war und dem Herrn des Hilgerhofes bald sein erstes, gesundes Kind geschenkt hätte.
    Bei all diesen Schandtaten schien sich die zarte und schwache junge Frau dunkler Mächte zu bedienen. Zauberei betrieb sie, Teufelswerk, wenn man es in einem neuen Wort ausdrücken wollte. Man hatte sie mit diesem Unhold, diesem Teufel, sogar gesehen. Zusammen mit ihm hatte sie die Tollwut über das Land gebracht, und viele schienen

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