Die Schluesseltraegerin - Roman
bereits zu ahnen, ja zu wissen, was sie als Nächstes im Schilde führte.
Es wurde langsam gefährlich für Inga. Denn schon wurden Stimmen laut, welche die Wasserprobe forderten:
»Wir sollten sie binden und ins Moor schmeißen. Geht sie unter, ist sie unschuldig. Schwimmt sie oben, ist sie eine böse Zauberin.«
Es bereitete den Leuten große Freude, vertrieb ihnen die Eintönigkeit des Alltags, verschaffte ihnen eine willkommene Pause, wenn es neue Spekulationen, neue Erkenntnisse über die einsame Witwe gab. Doch bislang wagte niemand, ihr zu begegnen, sie aufzusuchen, sie zur Rede zu stellen, sie etwa zu binden und tatsächlich zum Moor zu schleifen.
Noch wagte man es nicht, hatte noch nicht Anlass gehabt, genügend zu trinken, um in diesen Rausch zu verfallen.
Kinder jedoch waren in solchen Dingen häufig unbefangener und mutiger als ihre Eltern. Sie, denen nichts von all den Erzählungen fern geblieben war, sie kamen an einem Nachmittag
zur alten Schmiede. Fünf an der Zahl, vier Knaben und ein Mädchen, im Alter von etwa zehn bis zwölf Sommern. Die Steine, die sie nach Inga warfen, welche in ihrem Vorhof arbeitete, hatten sie im Bach gesammelt.
Am liebsten hätte sie sie allesamt gegriffen und ihnen die Ohren langgezogen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Demütigung zu ertragen und sich in ihr Haus zurückzuziehen. Noch immer flogen die Steine gegen die Wände und auf das Dach. Den Grund zu betreten und noch mehr Schaden anzurichten, wagten die Kinder jedoch nicht.
Inga ärgerte sich, dass sie weinen musste, ja, sie weinte sogar bitterlich. Schluchzend saß sie auf dem Amboss des Schmiedes Hatho und vergrub ihr Gesicht in den Händen, doch dann hörte sie plötzlich eine weibliche Stimme rufen.
»Verschwindet, ihr Nichtsnutze. Macht, dass ihr fortkommt, sonst merke ich mir die Gesichter eines jeden von euch und werde es den Trollen erzählen, was ihr für Schelme seid. Holen werden sie euch.«
Im Nu hatte das Steinewerfen ein Ende. Aber Inga war nicht beruhigter als vorher, denn die Stimme, die sie da vernommen hatte, gehörte zweifelsohne einer der beiden Hilgerschwestern.
»Dein Öl hat nichts bewirkt. Gar nichts. Alles ist aus ihr herausgekommen, vorn wie hinten, aber nichts Blutiges. Hier hast du es zurück.«
Wütend warf Gisela Inga das Fläschchen vor die Füße, sodass der spärliche Rest seines öligen Inhalts in den Lehmboden der Hathohütte rann.
»Unser Bruder ist in dieser Nacht zurückgekehrt«, fuhr sie fort.
Inga, die bis dahin mit abwesendem Blick den öligen Fleck auf dem Boden betrachtet hatte, schaute erschrocken auf.
»Ja, das entsetzt dich«, fuhr Gisela fort. »Damit hast du nicht gerechnet, wo du ihm doch so einen gefährlichen Streich an der Schulter verpasst hast. Er lebt, Inga. Noch ist er nicht richtig bei sich, schläft die ganze Zeit, aber er lebt.«
»Du musst mir endlich helfen, dieses Kind loszuwerden«, mischte sich nun auch Berta ein. Inga bemerkte sie erst jetzt. Schweigend und blass hatte sie bislang hinter ihrer Schwester gestanden.
»Das werde ich nicht«, antwortete Inga leise.
»Das wirst du tun«, fauchte Gisela sie an. »Es wird bereits über dich geredet, und wir wissen noch vieles mehr, was die Leute interessieren könnte. Hilf ihr, und du erhältst mein Versprechen, dass dein Ruf wiederhergestellt wird.«
»Die Wasserprobe wollen sie mit dir machen«, fügte Berta schwach hinzu.
»Ja, das wollen sie«, bestätigte Gisela.
»Wenn sie erst wissen, dass Ansgar wohlauf und wieder daheim ist …«, antwortete Inga ruhig.
»Das entlastet dich nur wenig, denn er wurde verwundet. Von dir, so sagen die Knechte. Sein Blut haben sie an dir kleben sehen«, unterbrach sie Gisela zischend.
»Besser schweigen sollten die Knechte, denn wenn Ansgar herausfindet, was ihr mit ihnen treibt, wird er sie beide vierteilen.«
»Deshalb sind wir hier. Du hilfst uns, und wir helfen dir.«
»Wie wollt ihr das tun?«
»Wir werden Gutes über dich verbreiten. Uns Geschichten ausdenken, die beweisen, dass du mit alldem, was man dir anlastet, nichts zu tun hast.«
Inga stand auf.
»Wann hast du zuletzt geblutet?«, fragte sie Berta und fasste ohne Vorankündigung an ihren Bauch. »Er wölbt sich bereits.
Da ist nichts mehr zu machen. So, wie du aussiehst, kommt das Kind bereits im Frühjahr.«
»Dann nimm einen Schürhaken oder sonst etwas«, schrie Gisela sie an.
Berta wurde noch blasser.
»Mach du es doch! So etwas habe ich noch nie
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