Die Schluesseltraegerin - Roman
Ja, vor allem vor Aufregung.
»Du?« Das war alles, was er sagte, während er sie staunend, mit beiden Händen seine Blöße bedeckend, anblickte.
Inga blieb nur stumm vor ihm stehen. Langsam, aber deutlich
spürbar, stieg die Röte in ihr Gesicht. Sie wurde rot, dabei war doch er es, der sich schämen müsste.
Flink stieg Agius nun von seinem Zufluchtsort hinunter.
»Gib mir deinen Umhang, bitte. Du trägst darunter sicherlich noch ein Gewand, oder nicht?«
Sie sagte noch immer nichts, sondern zog sich einfach nur den Sack über den Kopf – er war einer Mönchskutte gar nicht so unähnlich – und reichte ihn dem Bedürftigen. Ihre Hände zitterten noch immer. Ja, sie war sehr nervös. Wie oft hatte sie diesen Moment herbeigesehnt? Und jetzt war er endlich da und gestaltete sich so außergewöhnlich, dass keine ihrer vielen Fantasievorstellungen ihm auch nur annähernd gleichgekommen wäre.
»Du lebst also«, sagte er fast schüchtern, nachdem er sich angekleidet hatte, und blickte sie dabei nur kurz an.
»Du auch.«
Er nickte nur. Nach einer viel zu langen, unangenehmen Pause fragte er schließlich: »Was tust du hier?«
»Ich wollte meine Familie besuchen.«
»Ich war ebenfalls auf dem Weg zu ihnen.«
»Warum?«
»Es wird Zeit, mit deinem Bruder zu reden. Wo bist du gewesen, Inga?«
»Im Flecken Huxori. Ich habe dort für den Wirt der Taverne gearbeitet. Das heißt, ich arbeite dort noch immer, er erwartet mich am Abend zurück. Warum willst du schon wieder mit meinem Bruder reden?«
»Ich vermute, dass er für das Verschwinden des Ansgar verantwortlich ist. Ich meine sie zusammen gesehen zu haben.«
»Ansgar lebt und ist in Sicherheit.«
»Ist das wahr?«
»Ja. Er ist bei mir untergekommen. Mitunter wird er licht,
und in einem solchen Moment hat er mir das Versteck des Weißen beschrieben. Ich bin gekommen, um mit meinem Bruder zusammen diesen Unhold zu finden, ihn ins Tal zu führen und allen Leuten zu zeigen, dass nicht wir, sondern allein dieser die Schandtaten an den Hilgerschen begangen hat.«
»Was du nicht sagst! Lass uns gehen, Inga.«
»Wohin?«
»Na, dorthin. Zeige mir den Weg.«
Ansgar hatte Recht gehabt. Dort war sie tatsächlich – die Höhle der Wanda. Inga hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie sich damals, in der Nacht, in der der Weiße sie mitnahm, so sehr hatte irreführen lassen. An dieser Stelle des Berges hätte sie niemals gesucht.
Agius war bereits in die Höhle hineingeklettert, während Inga draußen Wache hielt. Es war still, sehr still, fast zu still in diesem Wald, der mehr einem Wäldchen gleichkam; klein, aber dennoch von Menschenhand unberührt – mit Ausnahme der Seherin Wanda und des Waldmannes, welche beide, davon ging Inga aus, durchaus Wesen von menschlicher Geburt waren.
Inga war noch immer aufgeregt. Den Weg über war sie aufgeregt gewesen, weil sich zwischen ihr und Agius kein Gespräch entwickeln wollte. Es war eine betretene, peinliche Stille eingekehrt, nachdem beide verzweifelt versucht hatten, einige Worte miteinander zu wechseln. Agius hatte wissen wollen, was Bero im Schilde führte. Warum er Ansgar entführt hatte. Inga hatte geantwortet, dass Bero seine Ehre, seinen Ruf und das Ansehen seiner Familie wiederherstellen wolle, indem er den wahren Mörder ausfindig mache. Das war nur die halbe Wahrheit, aber sie war plausibel. Ebenso plausibel war, dass er zu diesem Zwecke den Ansgar entführt hatte, weil er ahnte, dass dieser wusste, wo sich der Waldmann versteckt hielt. Agius hatte diese
Erklärung hingenommen und nicht nach weiteren Absichten gebohrt. Er hatte dann kurz erzählt, dass auch er und Melchior vermuteten, dass Ansgar vergiftet worden sei, dass er regelmäßig einen Trank verabreicht bekommen habe, damit sein Verstand absichtlich im Nebel bliebe. Inga bestätigte diese Vermutung, indem sie berichtete, dass er, seitdem er bei ihr in der Taverne hause, immer wieder zu sich käme, aber unter schrecklichen Kopfschmerzen litte, ein Zeichen dafür, dass sein Körper mit sich selbst ringe. Der eine Teil schreie nach dem Gift, der andere sehne sich nach dem gesunden Geist zurück. Agius hatte diese Aussage unkommentiert gelassen. Seitdem hatten sie die meiste Zeit geschwiegen, obwohl noch ein weiter Weg vor ihnen gelegen hatte.
Jetzt jedoch war Inga aufgeregt, weil sie jederzeit damit rechnete, dass der Alte von irgendwoher angeschlichen kam. Von Waldmännern hieß es, laut dem alten Ulrich, dass sie sich unsichtbar machen
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