Die Schluesseltraegerin - Roman
konnten. Und wer konnte schon wissen, welche Zauberkräfte dieser Weiße, bei all seinen sonstigen durchaus menschlichen Eigenschaften, besaß? Er war ein solch eigentümliches Wesen, dass man ihm alles zutrauen konnte.
Inga drehte sich ständig im Kreis, ging herum, schaute hinter jeden Busch, hinter jeden Baum, schielte immer wieder zur Höhle, in welcher sich Agius nun schon eine ganze Weile aufzuhalten schien. Oder kam es ihr nur so lange vor?
Sie tänzelte von einem Bein aufs andere und hätte sich am liebsten hinter einen Strauch gesetzt, so sehr drückte sie ein plagendes Bedürfnis. Aber sie musste warten.
Unendlich lange Momente vergingen.
Warum kam er nicht zurück?
Sollte sie nachsehen?
Sollte sie rufen?
Es ging nicht mehr.
Schließlich lief sie doch eilig neben die Höhle, hockte sich nieder und ließ der Bedrängnis freien Lauf. Und während sie so am Waldboden hockte, sah sie etwas im Moos liegen. Ja, die Sonne fiel da auf etwas Metallenes. Inga raffte ihr Gewand wieder zusammen und ging auf das Fundstück zu.
Dort zwischen altem Laub und Zweigen lag es. Sie hob es auf und staunte.
Bekannt kam es ihr vor. Sehr bekannt. So bekannt, dass sie nicht anders konnte, als es stillschweigend unter ihrem Rock zu verbergen.
Die Schlüssel. Ihre Schlüssel. Die Schlüssel der Hilgersippe.
»Niemand da.«
Inga erschrak.
»Was?«, rief sie.
»Da ist niemand. Aber es ist eindeutig die Höhle dieses Mannes. In ihr fand ich die gleichen Gegenstände wie in dem Unterschlupf auf dem Kapenberg. Er haust hier noch immer. Aber wieder einmal ist er nicht zugegen, wenn ich ihn besuchen will.«
»Ich kann nicht mehr warten. Ich muss zurück in die Taverne.«
Agius blickte Inga verwundert an.
»Nun gut. Gehen wir. Ich werde ein andermal wiederkommen. Aber bitte erzähle niemandem davon. Auch nicht deinem Bruder. Besser ist es, ich gebe dem Grafen Bescheid, damit er einige Männer schickt, um den Verdächtigen zu fangen. Wir wollen kein unnötiges Blutvergießen riskieren. Dein Bruder ist mutig, aber nicht von kräftiger Statur.«
Inga nickte nur stumm, und wieder blickte Agius verwundert. Er kam auf sie zu, nahm ihr Gesicht in beide Hände, neigte seinen Kopf sehr nahe zu dem ihren hinunter und flüsterte: »Was weißt du, was ich nicht weiß?«
Inga wurde es warm, sehr warm, zu warm. Eine riesige Schar Ameisen schien über ihren ganzen Körper zu krabbeln.
»Ich habe dir alles gesagt«, flüsterte sie zurück.
»Er ist bei dir. Bei dir in der Taverne. Und er kommt zu Verstand.«
»Ja.«
»Hat er noch andere Kräfte wiedererlangt?«
»Nein, ganz gewiss nicht.«
»Ist das wahr?«
»Und wenn er sie wiedererlangen würde, verspreche ich dir, dass ich ihn abweise.«
»Was ist mit dem Wirt?«
»Keine Gefahr. Er ist fett und unbeweglich.«
»Ist auch das versprochen?«
»Ja.«
Dann küsste er sie sanft, und Inga war fast geneigt, ihm alles zu sagen, ihm von dem Fund zu berichten und von der Ahnung, die sie zu beschleichen begann. Aber sie sagte es ihm nicht.
»Werden wir uns wiedersehen?«, fragte sie nur.
»Du weißt, wo ich zu finden bin.«
Und dann gingen sie. Sie kämpften sich schweigend durchs Dornengebüsch, durchquerten die tiefe Schlucht, die den Eschenberg in zwei Hälften teilte, kletterten über Felsen und sprachen immer noch kein Wort, als sie ein Stück weit den engen, von Mensch und Tier ausgetretenen Pfad hinuntergingen, der vom Berg ins Tal hinabführte. Auf halbem Wege trennten sie sich, nicht mehr als Blicke und ein Lächeln austauschend.
XXXVI
I ch weiß nicht, Bruder Agius, ob es so klug ist, allein hierher zu gehen.«
»Wir dürfen keine Zeit verlieren, Melchior. Was nützt es uns, wenn der Graf in vier Tagen seine Leute schickt? Bis dahin ist der weiße Mann über alle Berge. Außerdem glaube ich, dass noch jemand anders hinter ihm her ist. Es gilt eine Bluttat zu verhindern.«
»Er wird sich aber kaum von uns binden lassen, Agius.« »Gott wird mir vergeben, wenn ich mich gezwungen sehe, diese Keule hier einzusetzen.«
»Agius, Agius, du verwickelst mich armes Mönchlein in stets neue Ungeheuerlichkeiten.«
»Es tut mir leid, Melchior. Wenn du magst, darfst du zurückgehen. Ich werde es alleine versuchen.«
»Das wird dir kaum gelingen. Ich werde dich begleiten.«
Und wieder – es war noch am selben Tage, der Abend begann hereinzubrechen – begann der Mönch Agius, dieses Mal in Begleitung seines Mitbruders Melchior, sich durch das undurchdringlich
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