Die Schluesseltraegerin - Roman
noch wollte ich einen kleinen Spaziergang machen, ein paar Vögelchen fangen, da lief mir doch tatsächlich der junge Meinradsche über den Weg. Gerade noch, dass ich mich verbergen konnte.«
»Er sucht dich.«
»Will sich die Hände reinwaschen, nicht wahr?«
»Und der neue Herr vom Hilgerhof werden.«
»Sieh einer an! Es nimmt also Formen an. Du erstaunst mich.«
»Darum die letzte Tat.«
»Dennoch müssen wir ihn wiederfinden. Unter diesen Umständen dann doch besser tot als lebendig.«
XXXV
D ie Menschen begannen bereits zu pflügen. Auf ihrem Weg zurück in die alte Heimat konnte Inga auf den Äckern viele bekannte Gesichter erkennen. Ihr eigenes Gesicht hingegen sollte unerkannt bleiben, deshalb hatte sie sich in einen sackleinenen Umhang mit Kapuze gehüllt und versuchte möglichst nicht aufzufallen. Das war keine große Kunst, denn im Frühjahr waren viele Bettelleute unterwegs, sie krochen aus ihren winterlichen Schlupfwinkeln in den größeren Orten und zogen wieder durch die Lande, streiften von Hof zu Hof, um die Bewohner um milde Gaben zu bitten. Man hielt Inga für eine von diesen Mittellosen und schenkte ihr – zu ihrer Erleichterung – keinerlei Aufmerksamkeit. Nein, man sah sogar absichtlich weg, wenn man sie erblickte, damit sie ja nicht in Versuchung geriet, die arbeitenden Menschen auf ihren Feldern um ein Almosen zu bitten.
Inga überlegte den ganzen Weg über, wohin sie nun gehen sollte.
War es besser, Bero zu finden und mit ihm zusammen auf den Eschenberg zu gehen? Gemeinsam würden sie dann das Versteck des Weißen aufsuchen, ihn fangen, fesseln und ins Tal führen.
Es war eine alte Sitte, dass einige junge Männer im Frühjahr auszogen, um Waldmänner zu jagen. Natürlich glaubte niemand daran, dass es sie tatsächlich gab, aber die Erzählungen
der Alten besagten, dass solche Waldmänner, wenn man sie denn fand und fing, mit Wasser übergoss und dann den Leuten vorführte, dass solche Wilden Glück in Form von Fruchtbarkeit und Reichtum brachten. Niemals war es einem der jungen Kerle gelungen, tatsächlich einen Waldgeist zu packen, dennoch fanden sich in jedem Frühjahr einige Burschen zusammen, um auf die Jagd nach diesen finsteren Gestalten zu gehen. Das war ein willkommener Anlass, um der Arbeit zu entgehen, sich an einem lichten Ort ins Gras zu setzen und reichlich Met und Bier zu trinken. Manchmal fing man ein Wildschwein oder auch mal einen Dachs, um diese Tiere anstelle des Waldmannes in die Siedlungen zu treiben. Das war dann ein großer Spaß. Aber in diesem Jahr, so malte sich Inga aus, würden Bero und sie einen echten, wahrlich gefährlichen Wilden ins Tal bringen. Sie erfreute sich regelrecht an dem Gedanken, wie alle staunen, rufen, jubeln und feiern würden. Es war eine schöne Vorstellung.
Andererseits – das wäre eine weitere Möglichkeit – könnte sie auch die Mönche bitten, sie zu dem Unterschlupf des Weißen zu begleiten. Dann könnte sie endlich Agius wiedersehen. Es war eine aufregende Vorstellung, ihm nach so langer Zeit Aug in Aug gegenüberzustehen. Ja, diese Vorstellung war für Inga so aufregend, dass sie den Gedanken wieder verwarf. Sie traute sich nicht. Nein, sie war zu nervös. Und im Übrigen war es verboten. Agius war sicherlich hart für sein Vergehen bestraft worden. Er hatte für seine Sünde büßen müssen und war gewiss nicht gewillt, dem Quell dieser großen Verfehlung noch einmal gegenüberzutreten. Vielleicht, ja wahrscheinlich würde er sie davonjagen, wenn sie sich in der Nähe der Kapelle blicken ließ.
Es war besser, Bero aufzusuchen. Hoffentlich war er nicht wieder so ein Hosenschisser wie im Falle Ansgars. Hoffentlich war er mutig genug, dem Weißen ordentlich eins über die Mütze
zu geben. Und wenn er es nicht tat, würde Inga es für ihn erledigen. Sie war schnell, und der Weiße war alt, im rechten Moment sollte es gelingen, ihn zu überwältigen.
Doch das Gelingen dieses Vorhabens war abhängig davon, dass sie nicht nur Bero auffand, sondern ebenso das von dem wirren Ansgar beschriebene Versteck des Waldmannes. Und dann blieb zu hoffen, dass sich dieser auch in seinem Schlupfloch aufhielt.
Inga schlich zum Meinradschen Hof. Sie war absichtlich quer durch den ihr seit Kindertagen vertrauten Wald gelaufen, der nun im Frühjahr einladend und hell war. Dies war nicht nur eine Abkürzung zum Meinradschen Hof – so konnte sie auch, wenn sie sich am Rande des Waldes aufhielt, aus dem Versteck heraus fast sämtliche Äcker
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