Die Schluesseltraegerin - Roman
worden. Da war sich Inga sicher. Aber sie war sich auch sicher, dass
sie über diese Befürchtung weiterhin Stillschweigen bewahren würde. Kein Wort, zu niemandem, auch nicht zu Ansgar, wenn er in einer der nächsten Nächte wieder zu ihr kam und sie aufforderte, mit ihm ins Grubenhaus zu gehen.
Wer hatte Uta getötet? Wer hatte Grund dazu? Wer, außer ihr selbst? Inga fürchtete sich – sie fürchtete sich davor, falschen Verdacht zu erwecken, und sie fürchtete sich auch vor sich selbst. War sie vielleicht doch nicht so unschuldig am Ableben ihres Mannes und dessen Gespielin? Waren ihr die kleinen Schadenszauber, die sie gewirkt hatte, entglitten? Hatte sie womöglich Geister gerufen, die nun jenseits ihrer Kontrolle, aber ganz in ihrem stillsten und verborgensten Sinne handelten?
Nein, einen solch schrecklichen Zauber hatte sie damals nicht versucht. Es war nur ein Brot gewesen, ein Honigbrot, wie es so viele Frauen buken, um die Manneskraft ihres Gatten zu beeinflussen. Sie hatte das Getreide rechtsherum gemahlen, die Mühle also in die entgegengesetzte Richtung gedreht, um den Zauber umzukehren. Nicht gestärkt werden durfte er in seiner Männlichkeit, nein, verlieren sollte er sie. Ein unbedeutender Schadenszauber, mehr nicht.
Und Uta? Ihr hatte sie die Milch einer kranken Kuh zu trinken gegeben, in der Hoffnung, dass die Krankheit – eine hässliche, juckende Flechte – auf die Rivalin überginge. Doch das war vor langer, langer Zeit gewesen. Noch bevor sie wusste, dass Uta ein Kind erwartete.
Inga war damals wütend gewesen, wütend, enttäuscht und vor allem gedemütigt. Doch den Tod der beiden hatte sie sich nicht gewünscht. Aber ob sie mit ihren harmlosen Handlungen womöglich Schlimmeres heraufbeschworen hatte, das konnte sie nicht mit Gewissheit ausschließen. Fest stand, dass Taten vollbracht wurden, die Inga sich vielleicht manches Mal in ihren
unglücklichsten Träumen herbeigesehnt hatte. Aber wer kannte diese Träume? Wer fühlte sich durch sie beauftragt? War sie, ohne es selbst zu wissen, gar eine Hexe, eine Unholdin?
Inga fühlte sich schuldig.
»Wer besucht mich da?«
Es hatte sie einige Überwindung gekostet, sich dem neuen, hölzernen Gotteshaus zu nähern. Doch dann, nachdem Inga fast den ganzen Morgen hinter einer der großen Linden, die den Kirchplatz umgaben, gesessen und vergeblich auf ein zufälliges Erscheinen des Mönches Melchior gewartet hatte, war sie nun doch zur Kirche gegangen und hatte an die Tür geklopft. Es war ein kleines Gotteshaus – kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte, nicht zu vergleichen mit der herrlichen, steinernen Kirche des heiligen Kilian im fernen Huxori. Ganz aus Holz hatten die Mönche ihre Kapelle errichtet. Aus zwei Teilen bestand sie: ein größerer, vorderer Bereich mit Kreuz, Altar und einem winzigen, noch glockenlosen Turm; und ein hinterer, kleinerer, fast stallähnlicher Anbau, in dem die Mönche lebten. Die Tür zu diesem Wohntrakt stand ein wenig offen, und Inga lugte schüchtern um die Ecke. Ihr Herz pochte, denn sie befürchtete, dass es nicht Melchiors Stimme war, die da gerufen hatte.
Zu Recht, denn in dem dunklen Räumchen stand Bruder Agius an einem mächtigen Schreibpult, unmittelbar unter dem einzigen Fensterchen des Anbaus. Er war vertieft und schaute angestrengt auf ein großes vor ihm liegendes Pergament, welches er mit einer weißen Feder beschrieb.
Offenbar hielt er es nicht für nötig, sich zur Tür zu drehen, sondern arbeitete ungerührt weiter, sodass Inga sich scheu in dem kleinen Zimmer umschauen konnte. Melchior war nirgends zu sehen. Außer dem einen Pult hatten in dem Raum nur noch zwei schmale Liegen und ein winziger Tisch mit zwei
Hockern Platz. Alles war sehr einfach, aber sauber, es roch nach frischem Harz.
»Wie komme ich zu dieser Ehre?«
Inzwischen hatte sich Agius umgedreht und blickte Inga verwundert an.
»Eigentlich will ich zu Bruder Melchior«, sagte sie leise.
Er kam zwei Schritte auf sie zu und versuchte zu lächeln, blieb dann aber dennoch in sicherer Entfernung stehen.
»Womit kann Bruder Melchior dir besser dienen als ich?« Seine Worte klangen freundlich, aber Inga spürte, dass ihm ihre Gegenwart unangenehm war. Und auch ihr erging es nicht anders mit ihm.
»Ich will nicht stören. Besser ist es, wenn ich ein andermal zurückkomme.«
Sie drehte sich schnell um und wollte gerade möglichst rasch verschwinden, als er sie zurückrief.
»Aber du gehst doch nicht ohne Grund den
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