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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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hatte es sie nun unwillkürlich hierhergezogen. Ohne nachzudenken nahm sie ihr Kreuzamulett vom Hals, küsste es, murmelte mit geschlossenen Augen einige Worte und warf es dann im
hohen Bogen ins Moor. Es versank nicht sofort, sondern trieb noch eine ganze Weile auf der trüben Oberfläche. Inga schaute zu, wie es langsam unterging, und sie hoffte, nun auch die alten Götter beschwichtigt zu haben.
    Nachdenklich machte sie sich auf den Heimweg. Eine Abschwörungsformel sollte sie aufsagen, die Hälfte der Nacht. Von Brot und Wasser sich ernähren. Wie sollte sie dann arbeiten, ohne richtig zu essen, ohne genügend Schlaf? Außerdem hatte sie sich die Worte gar nicht merken können und auch gar nicht merken wollen.
    Aber geholfen hatte er ihr dennoch. Er hatte ihr gesagt, dass sie nichts mit dem Tod der beiden Menschen zu tun habe, und das wollte sie ihm gerne glauben.
     
    »Einen ofenen Fuß habe ich. Sieh nur, die Verletzung will und will nicht heilen.«
    »Wie ist das passiert?«
    »Nichts weiter als ein spitzer Stein. Auf einen spitzen Stein bin ich getreten, und nun schau dir das an. Schwarz wird es schon.«
    »Ich werde dir morgen eine Kräuterpaste bringen.«
    »Morgen? Dass ich nicht lache! Seit mehr als einen Monat hast du dich nicht blicken lassen. Wieso sollte ich darauf hofen, dass du gleich morgen wiederkommst? Was führt dich denn eigentlich heute hierher? Nun sag schon.«
    »Man hat sie erst jetzt gefunden.«
    »Die Gewisse?«
    »Ganz recht.«
    »Erst jetzt? Das stimmt mich heiter. Das war sicher eine saubere Schweinerei.«
    »Ein großer Schreck.«
    »Was vermutet man über ihren Tod?«
    »Dass sie es selbst gewesen sei.«

    »Jeder glaubt das?«
    »Sogar ihre Eltern.«
    »Nun, langsam können wir deutlicher werden. Wie sieht es mit dem nächsten Schritt aus?«
    »Ich bin noch nicht so weit.«
    »Noch nicht so weit? Es sollte bereits im Winter geschehen.«
    »Dazu bedarf es der richtigen Gelegenheit.«
    »Dann führe sie herbei, die richtige Gelegenheit!«
    »Das ist nicht so einfach.«
    »Meine Geduld ist am Ende. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Du musst dich beeilen. Sieh dir diesen Fuß an, das kann meinen Tod bedeuten. Und dann? Alles für die Katz.«
    »Morgen bringe ich dir die Paste.«
    »Die Paste … Verschwinde und komm erst wieder zurück, wenn du mir eine gute Nachricht überbringen kannst.«

VII
    W odan ließ es regnen am Tage, an dem die neue Kirche eingeweiht werden sollte, und obwohl der Himmel bis zum Horizont schwarz verhangen war, obsiegte schließlich der Christengott, denn mit einem Mal brachen die Wolken auf, und die Sonne bahnte sich hell und wärmend ihren Weg. Missmutig musste der alte Ulrich dieses Naturgeschehen als eine Niederlage der alten Götter gegen den neuen, den einen Gott, anerkennen. Inga half ihm gerade auf den Pferdekarren, auf dem er zusammen mit den Kleinkindern Platz nehmen durfte. Die anderen traten den weiten Weg zur neuen Kirche auf dem heiligen Berg zu Fuß an.
    Alle waren an diesem frühsommerlichen Morgen auf dem altbekannten Platz vor dem Gotteshaus versammelt, Freie, Halbfreie, Hörige, Knechte, Mägde, Alte, Junge, Kinder, Säuglinge. Menschen aus drei großen, den Berg umgebenden Siedlungen und aus mehr als acht Einzelgehöften hatten den Weg hierher gefunden, und die Gründe für ihr Erscheinen waren genauso vielfältig wie die Himmelsrichtungen, aus denen sie anreisten. Die meisten trieb die Neugier, die anderen die Verpflichtung, die wenigsten der Glaube, und eine nicht geringe Zahl die Vorfreude auf das anschließende Fest.
    Inga ging mit klopfendem Herzen, denn bestimmt würde sie an diesem Tag endlich einmal ihre eigene Familie wiedersehen. Gewiss käme es zu keinem Gespräch, man versuchte im günstigsten
Falle, sich aus dem Wege zu gehen. Aber Blicke austauschen wäre vielleicht möglich, sie könnte ihre geliebte Mutter sehen und die eine noch lebende Schwester. Von Vater und Bruder erhoffte sie sich, dass sie sie nicht beschimpften. Aber bei einem solch heiligen Zusammentreffen würden sie sich gewiss im Zaume halten.
    Und tatsächlich: Sie waren noch nicht ganz an dem von Linden umgebenen, festlich geschmückten Platz mit der schlichten Holzkapelle angekommen, als Inga auch schon ihre Eltern erblickte. Mit zitternden Händen half sie dem alten Ulrich vom Wagen. Dort, nur wenige Schritte entfernt, stand sie, ihre liebe Mutter. Inga wagte kaum, sie anzuschauen.
    Als sich Ulrich schließlich, auf die beiden Knechte gestützt, seinen Weg in

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