Die Schluesseltraegerin - Roman
Richtung des Gotteshauses bahnte, gleich hinter Ansgar und Gernot, die als Herr und Erbe des Hofes vorausgingen, blieb Inga Zeit, einen vorsichtigen Blick auf ihre Mutter zu werfen.
Alt war sie geworden, aber obwohl ihr Gesicht von tiefen Sorgenfalten durchfurcht war, schauten ihre Augen noch immer so frisch, jung und herzlich. Inga wäre am liebsten zu ihr gelaufen und hätte sie umarmt, doch ihre Mutter erwiderte den Blick der Tochter nicht einmal. Der Vater jedoch schaute sie an, zornig, voller Hass und Abscheu. Und als er merkte, dass plötzlich auch seine Frau den Blick auf Inga richtete, zog er sie schnell am Arm davon. Weg von der verstoßenen Tochter, weg von der verhassten Sippe der Hilgerschen, die wie selbstverständlich als erste die Kirche betraten und sich direkt vor den Altar stellten, als seien sie Edelinge, ja die Herzöge dieser Gegend. Und Inga war bei ihnen, bescheiden zwar und an hinterster Stelle, aber sie war bei ihnen, und wie man munkelte, war sie, die Tochter des freien Meinard, längst zur Hure dieses hochnäsigen Ansgar geworden. Es war eine Schande, eine Schande, der man nur
noch durch Ignorieren begegnen konnte. Inga wusste das Verhalten ihrer Familie richtig zu deuten, sie hatte nichts anderes erwartet. Dennoch schmerzte es sie sehr.
Während des Gottesdienstes, den der aus Huxori angereiste Prior des Klosters hielt, versuchte sie sich vorsichtig umzusehen. Es waren mehr als fünfzig Leute versammelt, und bei weitem passten sie, obwohl sie eng an eng standen, nicht alle in den kleinen Kirchraum. Die Türen waren weit geöffnet, und von draußen schauten die Köpfe der zahlreichen Unfreien herein. Der Prior war ein unscheinbarer Mann, der mit undeutlicher Stimme Dinge sagte, die Inga nicht verstand. Sie hörte auch nicht wirklich zu. Viel zu aufregend war die Situation, und sie hatte den Eindruck, dass es der Mehrheit der Versammelten nicht anders erging.
Wann traf man schon in solchen Massen zusammen?
Wann hatte man schon die Gelegenheit zu sehen, was aus dem alten Konrad geworden war, von dem es hieß, er habe bereits im Sterben gelegen? Oder der junge Bertold, der Erbe des Friedmarschen Hofes. Er war bereits zu einem stattlichen Mann herangewachsen. Die rote Tilde hingegen war unglaublich fett geworden, und die älteste Tochter des Liudolf hatte sich zu einer wahren Schönheit entwickelt. Was war nur mit dem langen Volkmar geschehen? Der hatte bloß noch einen Arm. Und erst die lispelnde Gerda! Wie dünn sie doch geworden war.
Und so fand man genügend Möglichkeiten, die Augen wandern zu lassen, mit dem Nachbarn zu tuscheln, zu lästern, zu lachen, sich zu wundern und Geschäfte abzuwickeln. Der eine hatte einen legendär prächtigen Bullen, den der andere gerne seinen Kühen zuführen wollte. Wieder einer schuldete seit mehr als zwei Wintern seinem fernen Nachbarn ein halbes Schwein, weil ihm dieser ein gutes Stück Wald zur Schweinemast zur Verfügung stellte. Daran musste erinnert werden. Erinnert
werden musste auch daran, dass es in der Gegend noch immer eine Handvoll heiratsfähiger Frilingstöchter gab, für die es geeignete Freier zu finden galt.
Die Kirchweihe selbst war nebensächlich, und auch Inga blickte nur ungern nach vorn, um dem Prior zuzuhören, denn immer wenn sie dorthin sah, hatte sie zwangsläufig Bruder Agius im Blick, der direkt hinter dem Prior stand und aufmerksam dem Gottesdienst folgte. Ihn zu sehen, bereitete Inga großes Unbehagen. Es war ihr peinlich, daran denken zu müssen, was sie diesem fremden Mann erzählt hatte und was er nun alles über sie wusste. Nie wieder würde sie beichten, nie wieder.
Das Kirchweihfest fand in der Siedlung im Tal am Fuße des Berges statt. Man hatte es nicht wagen wollen, ein solches Spektakel in unmittelbarer Nähe des neuen Gotteshauses zu veranstalten. Und das mit gutem Recht, denn es wäre schon einem Wunder gleichgekommen, wenn es den sich zusammenfindenden Menschen gelungen wäre, wenig zu trinken, sich nicht zu streiten, sich nicht zu prügeln, keine unanständigen Lieder zu singen und nicht paarweise hinter dem nahen Gebüsch zu verschwinden. So weltfremd waren selbst die gottesfürchtigen Mönche nicht, dass sie sich zugetraut hätten, etwaige Entgleisungen trotz des heiligen Anlasses vermeiden zu können. Und deshalb nahmen sie sich vor, nur kurz den Festlichkeiten beizuwohnen, frühzeitig zu verschwinden und dabei Augen und Ohren geschlossen zu halten.
Auch Inga ging nicht lang zum Fest. Es gehörte sich
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