Die Schluesseltraegerin - Roman
nicht für eine junge Witwe, einem solchen Treiben beizuwohnen. Das war etwas für unverheiratete Burschen und Mädchen und natürlich für Männer, ob verheiratet, verwitwet oder ledig. Für die bereits vermählten und die verwitweten Frauen war es Zeit zu gehen, sobald die Kinder müde wurden.
Inga saß neben Ada, weit entfernt von ihren Eltern, nur das
Gesicht ihres Bruders konnte sie hin und wieder zwischen den anderen Köpfen erkennen. Manchmal schaute er sie mit einem Blick an, der mehr Enttäuschung als Wut ausdrückte. Ihr kleiner Bruder, mit dem sie ein Herz und eine Seele gewesen war.
»Ich gehe den Kindern eine Honigmilch holen«, sagte Inga nach einer Weile des Schweigens, an Ada gewandt. Diese nickte nur. Sie versuchte soeben ruhig, aber entschieden ihre beiden Mittleren davon abzuhalten, sich wegen eines Holzlöffels zu schlagen. Inga mochte Ada, und seitdem sie und Ansgar sich regelmäßig zu einem Stelldichein verabredeten, suchte sie immer häufiger die Nähe seiner Frau. Es war nicht nur das schlechte Gewissen, sondern auch ein seltsames Gefühl der Verbundenheit, das sie zu dieser Frau trieb. Ada, das ahnte Inga, wusste Bescheid, aber sie veränderte ihr Verhalten nicht, sie wurde nicht böser, aber auch nicht freundlicher als zuvor.
Vier Becher mit Milch standen vor Inga auf einem Holztisch, und in ihrer Hand hielt sie einen Topf Honig, aus dem es dummerweise tropfte – genau auf ihr Kleid. Mit der anderen Hand gelang es Inga im letzten Moment, den nächsten zähen Tropfen aufzuhalten, dann stellte sie den Topf zur Seite und schleckte sich die Finger ab. Ein denkbar ungünstiger Moment, um von Bruder Agius angesprochen zu werden.
»Wasser und Brot«, so vernahm Inga das Flüstern des Mönches hinter sich, und als sie sich umdrehte, sah sie seinen gewohnt strengen Blick auf sich ruhen. Inga war sich nicht sicher, ob sie ihn anlächeln oder Angst vor ihm haben sollte. Und auch Bruder Agius war sich nicht sicher, und das ärgerte ihn.
Warum hatte er diese Frau angesprochen? Nicht beachten wollte er sie, so tun, als ob sie Luft sei. Doch dieses heidnische Met hatte es in sich. Nicht einmal einen halben Becher hatte er von dem Gebräu geleert, und schon war er nicht mehr Herr seiner selbst.
Da stand sie nun und schaute ihn mit ihren grünen Augen an. Sie versuchte verlegen zu wirken, aber die Art und Weise, wie sie ihren Mund verzog, verriet, dass sie sich innerlich über ihn lustig machte. Agius betrachtete sie lange, und unwillkürlich wanderten seine Augen über ihren Körper. Sie hatte sich tatsächlich von oben bis unten mit Honig betropft.
Mit Honig.
Schon seit Tagen versuchte er die Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben, versuchte sich nicht immer und immer wieder bildhaft vor Augen zu führen, was sie ihm in der Beichte in allen Einzelheiten anvertraut hatte. Zu verführerisch waren diese Bilder, zu gefährlich. Er verabscheute sie dafür, dass sie solche Bilder in ihm hervorrief. Ja, er wagte es kaum, sich des Nachts schlafen zu legen, aus Angst vor den Träumen, die ihn übermannten.
Schöne Träume waren das, aber gewiss nicht solche, die sich für einen keuschen Gottesmann geziemten. Zwei Nächte lang hatte er nun kein Auge zugetan, hatte stattdessen an seinem Pult gestanden, gelesen, geschrieben, war in die Kirche gegangen, hatte gebetet, alle Psalmen in nur zwei Nächten aufgesagt, um seinen verwirrten Geist zur Ruhe zu bringen.
Schon lange war ihm so etwas nicht mehr widerfahren. Seit Jahren nicht. Er war der festen Überzeugung gewesen, jeder erneuten Versuchung standhalten zu können und keiner von den Mönchen zu sein, die dem Wohlleben und anderen Sinnesfreuden erlagen. Er hatte sich gefestigt gefühlt, gefestigt genug, um wieder hinaus in die Welt zu gehen, die schützenden Klostermauern zu verlassen und unter den Menschen zu wirken.
Und nun kam dieses einfache, sächsische Weib, eine Frau ohne Bildung, ohne Erziehung, ja, eine Frau, die kaum je etwas von Gott erfahren hatte, geschweige denn, dass sie ernsthaft an ihn glaubte. Aber vielleicht machte gerade das ihren teuflischen
Reiz aus, machte sie mächtiger als selbst so edle Frauen, mit denen er schon als Beichtvater und Seelsorger zu tun gehabt hatte. Wahrlich, unter ihnen waren welche gewesen, die sich weitaus mehr bemüht hatten, dem Mönch zu gefallen. Doch das war ihnen nicht gelungen, keiner von ihnen. Ausgenommen dieser einen, dieser bestimmten, dieser so besonderen Frau. Und der jungen Sächsin hier sollte
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