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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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und sich von dahergelaufenen Gottesmännern aus dem gewohnten Tagesablauf bringen zu lassen.

    Agius wusste, dass noch viel Feinarbeit in missionarischen Dingen zu leisten war, und deshalb befürwortete er die Ausflüge seines Mitbruders in die Häuser der Freien, der Laten, der Witwen und Waisen. Melchior war zugänglich und fröhlich und verstand es, die tiefgreifenden Aussagen der Heiligen Schrift in einfache, unterhaltsame Worte zu kleiden. Eine Gabe, die Agius nicht zu eigen war, zu der er sich auch niemals herabgelassen hätte, die jedoch – und das sah er ein – notwendig war, um das anvisierte Ziel zu erreichen: die Menschen bereit zu machen, sich vollkommen in all ihrem Tun, Denken und Sein dem einen wahren Glauben an den einen wahren Gott zu verschreiben. Und wenn die alten Weiber gern vom guten Samariter, von der wundersamen Brotvermehrung und der Auferstehung des Lazarus hörten, dann sollte man ihnen diese Geschichten erzählen, allemal besser als Heidensagen vom Fenriswolf und der Midgardschlange.
    An diesem Abend hatte Melchior von dem Hirten und dem verlorenen Schaf erzählt, außerdem, auf ausdrücklichen Wunsch, die Weihnachtsgeschichte wiederholt und versprochen, beim nächsten Male Interessantes aus dem Alten Testament zu berichten. Und zu seiner großen Zufriedenheit scharten sich mittlerweile zahlreiche Kinder um die alten Frauen, hängten sich an seine Lippen und liebten es, wenn der Mann mit dem langen Umhang und den lustigen Augen Märchen aus einer fremden Welt erzählte.
     
    Doch diese Aufgabe war nun erledigt, und so marschierte er jetzt glücklich und forsch von der östlichen Seite kommend den Kapenberg hinauf, hoffend, sich in der urwüchsigen Wildnis nicht zu verirren, denn diesen Weg hatte er bislang nicht genommen.
    »Immer bergan, immerzu bergan, dem Gipfel entgegen auf
steinigen Wegen«, sang er in einer leisen, gerade selbst ausgedachten Melodie vor sich hin und stapfte völlig angstfrei durch den verwunschenen Wald.
    Wahrscheinlich, so dachte er bei sich, würden sie noch einige Wochen fressen, bevor sie sich verpuppten. Hoffentlich reichten die Blätter der Eichen aus? Nicht dass sie verhungerten, die possierlichen Tiere.
    So sehr in Gedanken an seine »Gänsemarschraupen« versunken, bemerkte er erst im letzten Moment zwei gewaltige Eichenböcke mit unglaublich langen Fühlern, die flink über den Waldboden krochen.
    Seinen Blick nicht von den Käfern lassend, verfolgte Melchior die Krabbeltiere, den Kopf gesenkt, die Augen vor Begeisterung weit geöffnet. Erst als sie am Stamm einer Erle emporeilten, hob sich auch Melchiors Blick ein wenig, und im nächsten Moment wich er entsetzt zurück.
    »Gott steh ihm bei«, murmelte er nur, machte kehrt und beeilte sich, zum heiligen Berg zurückzukommen.
     
    »Und er ist gewiss tot?«, fragte Agius.
    »Kein Zweifel, gar kein Zweifel.« Melchior war noch immer vollkommen außer Atem. »Sein Gesicht ist tiefblau, nein, pechschwarz ist es.«
    »Dennoch hast du ihn erkennen können?« Agius zog die Brauen zusammen.
    »Die Haare, die Kleidung, die Statur, daran habe ich ihn erkannt. Und das Gesicht ist lediglich verfärbt, die Züge hingegen deutlich zu erkennen.«
    »Und er sitzt einfach dort? Am Baum?«
    »An einer Erle. Gefesselt sitzt er dort. Und um den Hals hat er diesen Strick, diesen zugezogenen Strick. Großer Gott im Himmel, eine Mordtat war das, Bruder Agius.«

    Agius nickte.
    »Wenn es stimmt, Bruder Melchior, was du berichtest – und ich glaube nicht, dass du die Unwahrheit sagst -, dann kann es sich tatsächlich nur um eine Mordtat handeln.«
    Agius wurde sehr nachdenklich.
    »Wir müssen seine Familie benachrichtigen«, sagte Melchior, den schweigenden Bruder nur ungern unterbrechend.
    »Zuerst will ich mir selbst ein Bild machen«, antwortete Agius. »Ich möchte ihnen nicht unwissend begegnen. Wir werden noch heute gehen und den Toten aus seiner misslichen Lage befreien.«
    »Aber die Wölfe, Bruder Agius.«
    »Gerade wegen der Wölfe. Oder möchtest du ihnen den Leichnam eines Christenmenschen zum Fraß vorwerfen?«
    In der nahenden Dunkelheit machten sich die beiden Mönche, mit Fackeln und einem großen Leinentuch ausgerüstet, auf den Weg in den düsteren Kapenwald, um den toten Gernot, Sohn des Hilger, zu bergen.
     
    »Wer könnte Grund haben, ihn so heimtückisch zu ermorden?«, fragte sich Agius laut.
    Melchior, der nicht bemerkte, dass sein Mitbruder zu sich selbst sprach, antwortete: »Niemand. Er war ein

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