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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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sahen sie – es dämmerte bereits – in jeden Graben und riefen seinen Namen. Sie befürchteten, er sei vom Blitz erschlagen worden. Sie ritten in die Talsiedlung, fragten Liudolf, doch auch er hatte Gernot nicht gesehen.
    Mit versteinerter Miene kehrte Ansgar am Abend heim.
    »Ich weiß, wo er ist«, sagte Inga schließlich laut.
    »So, wo steckt er?« Ansgar sah sie überrascht an. Die Zwillinge schauten boshaft und nickten wissend.
    »Er wünschte sich, mit den Friesen in den Norden zu fahren,
auf der Weser. Es ist sein großer Traum. Noch gestern hat er davon gesprochen. Er wollte euch nicht enttäuschen, deshalb hat er sich nicht verabschiedet.«
    »Und warum weißt ausgerechnet du das?«, fuhr Ansgar sie barsch an.
    Die Zwillinge kicherten. »Warum wohl?«, zischelten sie leise.
    »Almut weiß es auch. Nicht wahr?«, wandte sich Inga mit fragendem Blick an die Nichte.
    »Ja«, antwortete diese scheu. »Er wollte ans Meer, ein Handwerk erlernen.«
    Ansgar schlug mit der Faust auf den Tisch, dass der Brei spritzte und fast sämtliche Trinkbecher umkippten.
    »Und warum sagt ihr das erst jetzt? Den ganzen Tag habt ihr uns suchen lassen!«, schrie er.
    »Es hätte ja sein können, dass ihr ihn findet, und dann hätten wir sein Geheimnis verraten«, antwortete Inga. Ihre Stimme blieb ungerührt.
    »So, Geheimnisse habt ihr also. Eine feine Dirne bist du.«
    Und dann verließ er das Haus und kehrte erst am Morgen wieder – vollkommen betrunken.

XI
    H öchst interessante, merkwürdige kleine Tierchen waren das, die Bruder Melchior vor einiger Zeit durch Zufall ausfindig gemacht hatte. Gefräßig und haarig waren sie und sehr eigen in ihrem Verhalten. Wie in Ketten aneinandergereiht zogen sie des Abends los und entlaubten binnen Kurzem ganze Bäume. Das hatte Melchior bereits beobachtet, und beobachtet hatte er auch, dass sich auf seiner Haut seit zwei Tagen hässliche, entsetzlich juckende Pusteln bildeten. Doch damit brachte er seine possierlichen »Gänsemarschraupen«, wie er sie nannte, nicht in Verbindung. Und selbst wenn er gewusst hätte, dass deren Härchen für seinen Hautausschlag verantwortlich waren, so hätte auch das ihn nicht davon abgehalten, diesen faszinierenden Tierchen regelmäßig Besuch abzustatten.
    Eine besonders große Kolonie hatte der Mönch an den Stämmen dreier alter Eichen entdeckt, welche auf der Kuppe des berüchtigten Kapenwaldes standen. Im Vergleich zum übrigen Berg war die Kuppe weniger baumbewachsen, hier wucherten Dornen- und Holunderbüsche zwischen moosigem Geröll und dünnen Birken. Die einzigen großen Bäume waren die drei besagten Eichen, welche nun tausenden von Raupen eine willkommene Heimat boten.
    Für Melchior stellten die haarigen Zerstörer keine Plage dar, der man beikommen musste – nein, er freute sich über die Entdeckung, die er an einem sonnigen Maiabend bei einem seiner
zahlreichen Streifzüge durch die Wälder dieser Gegend gemacht hatte. Und sooft es ihm seine geistlichen Pflichten erlaubten, fand er, ohne Wissen seines Mitbruders Agius, den weiten Weg zu seinen »Gänsemarschraupen«, um sie in ihrer Entwicklung, ihrem geselligen Treiben und in ihrer unglaublichen Fresswut zu beobachten.
    Auch an diesem Abend zog es den lustigen Mönch auf den Kapenberg.
     
    Er hatte zuvor eine Gruppe Witwen in der nahen Siedlung besucht, alte Frauen, die sehr interessiert daran waren, Geschichten aus der Bibel zu erfahren. Häufig ging er des Nachmittags zu ihnen, saß mit ihnen in einem kleinen Grubenhaus, wo sie, soweit ihre Augen noch scharf und ihre Finger noch geschickt genug dazu waren, spannen und woben, während Melchior aus dem Gedächtnis und in Volkssprache Stellen aus der Bibel vortrug.
    Am besten gefielen ihnen die Gleichnisse Jesu und natürlich dessen große Wunderheilungen. Agius und Melchior waren froh, dass wenigstens einige Frauen ernsthaftes Interesse am neuen Glauben zeigten. Von einer allgemeinen Begeisterung konnte hingegen nicht die Rede sein, denn schon am ersten Sonntag nach der Kirchweih hatte sich nur eine spärliche Anzahl an Gläubigen zum Gottesdienst auf dem heiligen Berg eingefunden – das waren zumeist Knechte, Mägde sowie andere Unfreie von den umliegenden Höfen gewesen, für die der Kirchgang eine Möglichkeit des Müßiggangs und der Ruhe vor den alltäglichen Pflichten im fremden Hause bedeutete. Alle Übrigen – so auch die Bewohner des Hilgerschen Hofes – dachten nicht im Traum daran, den Messbesuch zur Routine werden

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