Die Schluesseltraegerin - Roman
begegneten, aber hier, in dieser Hütte, waren sie zu Hause. Auch die Erinnerungen an den gemeinsam mit Ansgar verbrachten Abend hinter diesen Wänden ließ sie nicht ruhiger werden. Jeder, der sich allein im Dunkeln an einem solchen Ort aufhielt – zudem mit dem Gefühl von Schuld belastet -, musste in panische Furcht verfallen. Und eine solche begann sich langsam Ingas zu bemächtigen.
Es war eine milde Nacht gewesen, sodass Inga sie einigermaßen gut im Schutze einer der großen Kastanien am Bachufer hatte verbringen können. Kalt war ihr kaum gewesen, aber der Hunger beschlich sie nun empfindlich. Einige Beeren waren zu dieser Jahreszeit bereits zu finden; ein Getreidebrei, mit Milch zubereitet und mit Honig gewürzt, das wäre jedoch eher nach Ingas Geschmack gewesen. Doch diese Zeiten waren vorüber, und sie würde lieber verhungern, als an den Türen der Menschen zu kratzen und um Almosen zu bitten. Einige Schlucke des frischen, kalten Bachwassers füllten aufs Erste den leeren Magen und mussten genügen, bis ihr ein Einfall käme, wie sie am besten an nahrhafte Kost kommen konnte.
An diesem freundlichen Morgen war es in der Schmiedehütte nur wenig unheimlich, und so machte sich Inga wieder an die Arbeit. Mit Mühe und Not, da war sie sich sicher, konnte es ihr gelingen, die Hütte wieder einigermaßen auf Vordermann zu bringen. Und Rüstzeug gab es hier genug. Sie hatte eine solche Tätigkeit noch nie verrichtet, aber schon als Kind gerne dabei zugesehen.
Inga nahm sich eine Menge vor: Das Flechtwerk der Wände wollte sie mit Hilfe trockenen Grases flicken. Und auch Lehm
ließe sich zur Not selber herstellen. Wichtig aber war vor allem, das Dach wieder dicht zu machen. Die Balken mussten stabilisiert und neues Stroh darübergelegt werden. Keine leichte Aufgabe, aber helfen – das wusste sie – würde ihr niemand. Deshalb versuchte sie es allein. Weit kam sie jedoch nicht.
Und so beließ sie es dabei, die Schmiede zu lassen, wie sie war, auf gutes Wetter zu hoffen und sich aus den Gegenständen, die sie am Vortag meist unsanft nach draußen befördert hatte, brauchbare Möbel zu basteln.
Am Nachmittag verfügte sie bereits über ein Strohlager, abgedeckt mit alten Säcken. Die Feuerstelle war gereinigt, Brennholz zur Genüge vorhanden. Einen Tisch bildete der enorme Baumstumpf, den Hatho zum Holzhacken benutzt hatte und von dem Inga noch immer nicht wusste, wie sie es geschafft hatte, dieses riesige Gebilde ins Haus zu rollen. Einen Hocker fand sie im Amboss. Darüber hinaus gab es noch eine wacklige, aber dennoch funktionstüchtige Holzbank. Des Weiteren reparierte und reinigte sie verschiedene Kübel, Holzschalen und sogar einen Tonkrug.
Jetzt galt es nur noch etwas Essbares zu finden. Ein Problem zwar, aber zu dieser Jahreszeit lösbar.
Erst am Abend des übernächsten Tages bemerkten die Leute, dass jemand ins Geisterhaus eingezogen war. Die meiste Zeit hatte man zuvor damit verbracht, sich Gedanken über die Vorfälle auf dem Meinradschen Hof zu machen.
Wie kam es, dass Ansgar wieder zum Hilgerhof zurückkehren durfte?
Würde Meinrad Rache üben?
Was war tatsächlich mit Gernot geschehen?
Und Bero – war auch dieser längst tot?
Welche Rolle spielten die Mönche?
Handelte es sich letztendlich um einen fürchterlichen Fluch, der seit den Tagen ihrer Väter auf diesen beiden Familien lastete?
Über Inga verlor niemand ein Wort. Und niemandem, außer den Bewohnern des Hilgerhofes selbst, war aufgefallen, dass sie dort nicht mehr lebte.
Die krumme Gunda war es – wie konnte es anders sein -, die an dem zweiten Abend, den Inga in der alten Schmiede verbrachte, Rauch aus dem Dach des Hathohauses aufsteigen sah. Nahezu todesmutig – so war Gunda, wenn es um das Erlangen neuer Informationen ging – machte sich die Alte allein auf den Weg in Richtung Bergtal, ein Weg, den die Menschen aus der Siedlung des Liudolf nur selten gingen, führte er doch im Grunde ins Nichts.
Den Meinradschen Hof und auch die neue Kapelle konnte man von hier aus erreichen, aber dorthin gelangte man viel besser über einen kürzeren, wegsameren Pfad auf der östlichen Seite der Siedlung. Die Hilgerschen allein nutzten ihn manchmal, diesen Weg an der Schmiede vorüber, denn nur für sie stellte er tatsächlich die kürzeste Strecke zum heiligen Berg dar.
Nun näherte sich die krumme Gunda, und sie hätte sich nicht noch näher herangewagt, wenn Inga nicht in dem Moment aus dem Haus getreten wäre, als das
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