Die Schluesseltraegerin - Roman
gewöhnt, alleine zu sein, und es gefiel ihr gut.
Der Sommer brachte in den nahen Wäldern und an den Rändern der Felder die herrlichsten Kräuter hervor. Und da sie in ihrer Unterkunft über genügend Platz zum Trocknen verfügte und nun auch die Zeit hatte, um sich ausgiebig dem Sammeln und Verarbeiten der Heilpflanzen zu widmen, zog es Inga oft den ganzen Tag hinaus. Körbeweise brachte sie die verschiedensten Gewächse nach Hause, und je mehr sie sich damit beschäftigte, desto mehr kam die Erinnerung an die Weisheiten ihrer Großmutter zurück, welche sich hervorragend in der wundersamen Kräuterkunde ausgekannt hatte.
So kam es, dass Inga eines Tages wieder einmal dem Mönch Melchior begegnete. Es war unweit des Opfermoores, wo zahlreiche Weiden wuchsen, deren Rinde einen Saft abgab, den, so war Inga wieder eingefallen, die Großmutter häufig erfolgreich gegen Fieber verabreicht hatte. Melchior hingegen beobachtete den Tanz der Libellen.
»Ein wunderschöner Tag, Inga von der alten Schmiede, nicht wahr?«
Offensichtlich hatte sich ihr Aufenthaltsort auch bei den Mönchen herumgesprochen.
»Wie geht es dir, Bruder Melchior?«
»Nun, die Kirche wird besucht. Nicht zahlreich strömen sie herbei, doch einige Witwen, Mägde und Kinder sind des Sonntags bei uns. Bruder Agius sieht das anders, aber meine Wenigkeit ist hoffnungsvoll, dass ihrer mehr werden.«
»Das ist gut zu hören!« Inga vermied es aus gutem Grund, weiter über den mehr oder weniger regelmäßigen Kirchgang der Umwohner zu reden, und wechselte das Thema: »Hat Ansgar sich auf alles eingelassen?«
»Er ist jeden Morgen bei uns. Mürrisch zwar und etwas teilnahmslos, aber man kann sich auf sein Kommen verlassen. Den angerichteten Schaden hingegen will er erst wieder voll und
ganz gutmachen, wenn er weiß, was mit dem armen Gernot geschehen ist. Und diese Forderung nagt sehr an unserem Gewissen, dem meinen und dem des Bruders Agius.«
»Wollt ihr es ihm sagen?«
»Darüber beratschlagen wir noch.«
Nun war es an ihm, ein unangenehmes Gesprächsthema zu wechseln: »Schau, Inga von der alten Schmiede, wie sie tanzen. Und diese enorme Größe. Größer als meine Hand. Und ich habe riesige Hände. Ist das nicht eine hinreißende Anmut?«
Er erging sich einige Momente in fast andächtigem Staunen beim Anblick der Libellen, wobei seine schielenden Augen von innen heraus so sehr strahlten, dass Inga nicht anders konnte, als sich mit ihm zu freuen. Schließlich fragte er fast beiläufig:
»Was machst du eigentlich hier?«
»Ich sammle den Saft der Weiden. Zu spät in diesem Jahr, aber mir ist erst gestern die Erinnerung an seine Heilkraft bei Fieber gekommen.«
»Willst du dich in der Kräuterkunde üben, Inga?«
»So ist es. Es hat mir schon immer viel Freude bereitet. Doch leider fehlte die Zeit. Nun habe ich keine Äcker mehr zu bestellen, kaum noch Tiere zu versorgen, und da ich gerade nicht Hunger leiden muss, nutze ich die Gelegenheit, unnütze, aber schöne Dinge zu tun.«
»Die Lehre von der Heilkraft der Kräuter ist kein unnützes Ding, gute Inga. Mein Mitbruder Gregorius, der Herbarius aus dem nahen Kloster Corbeia Nova, ist ein wahrer Genius in der Materia medica. Wichtig ist allerdings zu wissen, dass man den engen Pfad der Heilkunst nicht verlässt, um in die Gefilde der schwarzen Magie abzudriften. Denn das kann gefährlich sein.«
»Was verstehst du unter schwarzer Magie, Bruder Melchior?«
»Nun, auch Bruder Gregorius ist sich sicher, dass manche Kräuter besser bei Mondenschein, andere im Morgentau und
wieder andere in der Abenddämmerung gepflückt werden sollten. Dabei darf man Gebete murmeln, jedoch niemals heidnische Beschwörungsformeln, so wie es, unter uns gesagt, sogar einige meiner Brüder mitunter tun. Aus Unwissen, nicht aus Teufelei, versteht sich.«
Inga zog bei diesen Worten nur die Stirn kraus.
»Gleich morgen muss ich mich wieder zum Kloster aufmachen, und wenn ich schon einmal dort bin, werde ich den Bruder Gregorius bitten, mir seine eigenhändig verfasste kleine Schrift über die Heilkräuter zu borgen. Sie beruht auf den Lehren des Dioscurides und ist zudem angelehnt an das Lorscher Arzneibuch. Sorgsam werde ich sie lesen und dir in allen Einzelheiten davon berichten, gute Inga. Denn so bleibt ausgeschlossen, dass du bei deiner Arbeit vom rechten Wege abkommst.«
»Vielen Dank, Bruder Melchior.«
»Ach, und außerdem: Wir, der Bruder Agius und meine Wenigkeit, würden uns freuen, auch dich beim
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