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Die Schluesseltraegerin - Roman

Die Schluesseltraegerin - Roman

Titel: Die Schluesseltraegerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Neumann
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Sachsen brutal unterjocht hatte. Und nun gab es neue Gesetze, an die man sich zu halten hatte. Gesetze, die nicht mehr viel mit den alten Stammesrechten zu tun hatten. Bislang fehlte es jedoch an solchen Leuten, die nicht nur befugt, sondern auch fähig waren, die neuen Grundsätze zu vertreten und durchzusetzen.
    Alles, was alt war, war verboten, alles, was neu war, noch niemandem ausreichend bekanntgemacht. Früher war in solch heiklen Fällen ein Rat der Ältesten zusammengekommen, man hatte gemeinsam beratschlagt und sich in Angelegenheiten wie dem Fehdestreit zwischen zwei freien Sippen meist auf einen klärenden Zweikampf geeinigt. Doch sämtliche Thing-Zusammenkünfte,
ob im großen oder auch nur im kleineren Rahmen, waren seit den Tagen des Kaisers Karl gar tödlich unter Strafe gestellt. Nicht, dass man sich stets daran gehalten hätte. Aber die Ältesten starben langsam aus, und ersetzt wurden sie von solchen, die seit Kindertagen nichts anderes erlebt hatten als die Herrschaft der Franken und in Dingen des überlieferten und des neuen Rechts noch verwirrter waren als selbst ihre besiegten Vorväter.
    Wie also sollte man sich verhalten? Welche Strafe drohte einem Mann, der seinen Nachbarn erschlug, weil er ihm das Korn gestohlen hatte? Was machte man mit einer Frau, die ihr Neugeborenes erstickte? Nach den alten Rechten handelten beide im eigenen Ermessen und durften lediglich von denen gerichtet werden, die unmittelbar Schaden durch die Tat erlitten hatten. Und nach den neuen Gesetzen? Man wusste es nicht.
    Selbst der Graf, oder besser der sächsische Edle, der vom Kaiser für diese Gegend zum Grafen ernannt worden war, wusste es nicht. Und er war heilfroh, wenn man ihn mit solcherlei Dingen nicht belästigte.
    Also verhängte die Kirche die Strafen. Buße nannte man sie. Und eine solche Buße hatte Ansgar leisten sollen. Was aber, wenn man ihr nicht nachkam? Dann drohte dem Sünder die Strafe Gottes, und sein Seelenheil war in höchster Gefahr.
    Nun, wer konnte es einem erdverbundenen, freien Mann wie Ansgar verdenken, wenn er sich nach mehr als einem Dutzend verbüßter Tage dachte: »Soll er mich doch richten, der Christengott. Soll er einen Blitz vom Himmel schicken und mich erschlagen. Tut er es nicht, hat er nichts gegen mich. Doch zu den Mönchlein wandere ich nicht mehr.«
    So ähnlich redeten die Leute, und so hatte Ansgar tatsächlich gedacht, als er nach nur wenigen Besuchen auf dem heiligen Berg seine ihm verhängten Bußübungen eingestellt hatte. Lieber
fürchtete er die Strafe Gottes, die ihn nun ereilen könnte, als dass er sich weiterhin zum Gespött machte, wenn er, der stolze Ansgar, gebeugten Hauptes allmorgendlich in die Kirche stapfte und dort das Vaterunser betete. Worte, die er nicht einmal verstand und auch nicht zu verstehen versuchte. Der Mönch hatte ihm bloß Angst machen wollen, als er drohte, ihn vor das kaiserliche Gericht zu bringen. Doch einem Ansgar, Sohn des Hilger, konnte man keine Angst machen, und schon gar nicht mit Dingen, von denen er noch niemals zuvor gehört hatte.
    Der Graf hielt manches Mal Gericht, das war bekannt, doch lediglich über Unfreie oder aber über solche Freveltaten, die nichts, aber auch rein gar nichts mit Ehre zu tun hatten. Einen Freien konnte man nicht belangen – nicht, wenn er sich auf sein eigenes Hofrecht berufen konnte. Und das konnte Ansgar, denn er war der festen Meinung, dass Bero der Mörder seines Bruders war. Und sein Bruder war ein Mitglied seines Hofes, eine teure Arbeitskraft, die ihnen in diesem Herbst bei der trotz der Verzögerung durch die Tollwut reichlich ausfallenden Ernte empfindlich fehlte. Deshalb war es Ansgars Recht, sich Genugtuung für diesen Verlust zu verschaffen, und das hatte er sich auch fest vorgenommen, nachdem er erfahren hatte, dass Bero zurückgekehrt war.
     
    Seit wenigen Augenblicken jedoch hatten ihn mit einem Mal Zweifel beschlichen.
    Allein war er zu dem brachliegenden, großen Feld am Eschenberg geritten. Die Umzäunung wollte er überprüfen und alles für die bevorstehende Aussaat des Wintergetreides – eine Neuerung, zu der er sich in diesem Jahre entschlossen hatte – vorbereiten.
    Doch dann hatte er sie gesehen: die Schnitzerei. Und er hatte sogleich verstanden.

    War es nur ein übler Scherz? Eine weitere Heimtücke des listigen Bero?
    Nein.
    Schon viele Jahre hatte er es geahnt. Auch Rothger hatte es vermutet. Nur zwei Mal hatten sie miteinander über diese Möglichkeit gesprochen und

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