Die Schluesseltraegerin - Roman
Inga saß mit einem Korb duftender Kräuter auf weichem Moos, war frei und ungebunden, aber dennoch wollten diese trüben Gedanken und dieses mulmige Gefühl sie nicht loslassen.
Es würde noch mehr geschehen – da war sie sich sicher.
Es würde noch mehr geschehen – das wusste auch derjenige, der nicht weit von ihr im Schatten eines großen Felsbrockens saß.
»Das ist kein sicherer Ort hier für dich.«
»Das musst du mir nicht sagen. Weißt du ein besseres Versteck?«
»Vielleicht ist es besser, wenn du ganz fortgehst von hier.«
»Willst du mich etwa loswerden? Das würde dir so passen.«
»Und wenn man dich findet?«
»Niemand erkennt mich, niemand vermutet mich hier. Und wenn sich hier einer herumschleicht, erblicke ich ihn eher als er mich.«
»Verbirg dich gut.«
»Ich will mich nicht mehr verbergen. Wir müssen weitere Zeichen setzen. Die Dinge haben sich nicht so entwickelt, wie ich es mir gewünscht habe.«
»Du wirst dich immer verbergen müssen, selbst dann, wenn eines Tages alles vorüber ist.«
»Wenn du dich nicht beeilst, werde ich das Ende nicht einmal mehr erleben. Warum zögerst du so lange?«
»Wir müssen ohnehin warten. Er ist noch zu jung, viel zu jung.«
»Der vorletzte Schritt kann dennoch getan werden.«
»Das mache ich nicht. Dieser hat wahrlich überhaupt gar nichts damit zu tun.«
»Dennoch stellt er eine Gefahr dar.«
»Er hat keine Rechte.«
»Er könnte sie einfordern.«
»Das wird er nicht.«
»Ich will nicht mit dir streiten. Tu, was ich dir sage.«
»Lass uns warten. Vielleicht hilft uns Mutter Natur. Vor wenigen Wochen wäre es beinahe so weit gewesen.«
»Darauf ist kein Verlass. Und denke immer daran, dass andere nehmen, was uns zusteht.«
»Sie scheinen aufzugeben.«
»Tatsächlich?«
»Der Strenge ist mittlerweile vollkommen verbittert. Er lässt sich kaum noch blicken.«
»Das ist gut zu hören. Dennoch verschenken die im Tal immer mehr von ihrem Land.«
»So ist es.«
»Greift diese Sitte um sich?«
»Für unsere Sache besteht in dieser Hinsicht keine Gefahr. Wenn wir warten, wird alles gutgehen. Handeln wir zu früh, könnte es einen lachenden Dritten geben.«
»Diesmal hast du sogar Recht.«
»Ich habe dir ein Huhn gebracht. Frische Milch und Käse außerdem.«
»Bier?«
»Hier, einen ganzen Krug voll.«
»Gut. Ich hasse es, mich von gepökeltem Pferdefleisch zu ernähren. Und hier gibt es nicht einmal mehr Wölfe, denen man es zum Fraß vorwerfen könnte.«
»Salziges Fleisch fressen sie ohnehin nicht. Ich gehe jetzt.«
»Geh ruhig, verschwinde und lass mich allein. Aber eines will ich dir noch sagen: Ich habe mir eine kleine Überraschung ausgedacht. Einen Zeitvertreib. Ein Rätsel will ich ihm auftragen, dem Verbliebenen. Mal sehen, ober klug genug ist, es zu entschlüsseln.«
»Sei vorsichtig und verrate dich nicht.«
»Solange du tust, was ich dir auftrage, wird es keinen Verrat geben.«
Am unteren Hang des Eschenbergs, dort, wohin bereits die Felder der Bauern reichten, gab es einen kleinen Tannenhain. Nicht mehr als ein Dutzend hoher alter Nadelbäume standen dort inmitten von seltsamem Gestein. Oft kamen Kinder hierher, um sich die Felsen anzuschauen, auf denen schneckenartige Wesen und Muscheln eingraviert zu sein schienen: Meeresgetier in einer Gegend, die weit, weit entfernt vom Ozean lag.
Viele Sagen und Mythen rankten sich um diesen eigentümlichen Gesteinshaufen. Am ehesten konnten sich die Menschen die merkwürdigen Funde so erklären, dass es sich dabei um den Tischabfall der Götter handelte, die ihre Essensreste achtlos vom Himmel geworfen hatten.
Am Rande dieses Haines befand sich eines der weit gestreuten Felder der Hilgerschen. In diesem Jahr lag es brach und einsam, kaum jemand der Familie verirrte sich hierher.
Anders sah das mit Bruder Melchior aus. Ihn zog es auch in den entlegendsten Winkel dieses für ihn so spannenden Gebietes, und gerade der Tannenhain hatte es ihm momentan besonders angetan. Nicht etwa der Versteinerungen wegen, für die er kein Auge hatte, sondern aufgrund eines enormen Ameisenhügels, der sich in der Mitte des Wäldchens befand und den zu beobachten des Mönches neueste Leidenschaft war.
Und weil Melchior – neben der krummen Gunda – einer der Menschen dieser Gegend war, die am weitesten herumkamen, war es auch wieder einmal ihm beschieden, eine mysteriöse Entdeckung zu machen.
Da hatte doch tatsächlich jemand den vom Sturm auf Mannshöhe abgebrochenen Stamm eines
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