Die Schmetterlingsinsel
so einfach erwies. »Und bitte reden Sie leise und versuchen Sie, sie nicht aufzuregen.«
Natürlich stürme ich mit Pauken und Trompeten in ein Krankenzimmer! Ihre Wut unterdrückend bedankte Diana sich für das Häubchen, das ihr die Schwester reichte, und versicherte ihr, sich an die Regeln zu halten. Als sie die Haube über ihr Haar und ihren Mundschutz vors Gesicht gebunden hatte, durfte sie endlich eintreten.
Obwohl sie sich innerlich bereits gewappnet hatte und auch Erfahrungen mit dem Aussehen eines Schwerkranken hatte – ihre Mutter war vor neun Jahren an Krebs gestorben –, war Emmelys Anblick ein Schock für sie.
Das rotblonde Haar war verblichen wie Wolle, die zu lange der Sonne ausgesetzt gewesen war. Ihr runzliges Gesicht war eingefallen, dunkle Schatten umgaben die Augen. Aus dem leicht geöffneten Mund drang rasselnder Atem. Die nun vollständig gelähmten Arme waren mit Bändern fixiert worden, damit sie nicht zwischen die Bettgitter gerieten. Diana stellte erschrocken fest, wie mager Emmely geworden war. Offenbar hatten noch andere Dinge an ihr gezehrt als der Schlaganfall.
Mit den Tränen kämpfend, die einen dicken Kloß in ihrem Hals bildeten, trat sie leise an das Bett heran, das von mindestens einem halben Dutzend Geräte umstanden wurde, die in einem bestimmten Rhythmus leise vor sich hin piepten.
»Tante Emmely?«, fragte Diana leise, während sie sich über das Gesicht der Kranken beugte. Keine Reaktion. War sie überhaupt in der Lage, etwas zu hören? Die Schwester war inzwischen wieder fort, sie konnte sie nicht mehr fragen.
»Tante Emmely?«, wiederholte Diana jetzt ein wenig lauter, wobei sie ihre ganze Beherrschung aufbringen musste, um nicht zu weinen.
»Diana?«
Obwohl sie sehr leise sprach, war Emmely gut zu verstehen. Unendlich langsam drehte sie den Kopf zu der Seite, von wo sie ihren Namen vernommen hatte, dann schlug sie die Augen auf.
»Ja, ich bin hier, Tante.« Diana wollte schon nach einer ihrer Hände greifen, doch als ihr einfiel, dass sie dort nichts spüren konnte, streichelte sie ihr sanft übers Haar und spürte dabei, dass ihre Stirn glühte.
»Wie gut, dass ich dich noch einmal sehen darf«, flüsterte Emmely, während sie den Blick eindringlich auf Diana richtete. »Du bist in den letzten Jahren noch hübscher geworden, fast wie deine Großmutter Beatrice. Sie war auch wunderschön, nachdem sie sich von dem Elend ein wenig erholt hatte.«
Diana unterdrückte ein Schluchzen, konnte aber nicht verhindern, dass eine Träne über ihre Wange glitt und aufs Betttuch tropfte. »Du bist auch wunderschön, Tante.«
»Ausnahmsweise glaube ich dir mal«, entgegnete Emmely, wobei kurz ihr Humor wieder durchblitzte, der sie bei der Nachbarschaft so beliebt gemacht hatte. »Aber warum weinst du dann? Sehe ich wirklich so schlimm aus?«
Diana schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nur …«
»Weil es mit mir zu Ende geht?«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ach Kindchen, für jeden kommt früher oder später der Abschied. Ich hatte ein langes Leben, nicht immer glücklich, wie du weißt, aber es war lang, und ich hatte die Möglichkeit, einiges von der Schuld, die auf unserem Familienzweig liegt, abzutragen.«
Schuld? Diana hob verwundert die Brauen. Welche Schuld sollte diese freundliche und liebevolle Frau auf sich geladen haben? Oder ihre Familie?
»Vielleicht lerne ich im Jenseits endlich mal Grace kennen, die Frau, die in gewisser Weise auch mein Leben bestimmt hat, selbst wenn ich sie nicht persönlich kannte«, fuhr Emmely fort, während Schweißperlen auf ihrer Stirn erschienen.
Am liebsten hätte Diana ihr gesagt, dass sie sich besser ausruhen und ihre Kräfte sparen sollte, aber schon früher hatte sich Emmely nie den Mund verbieten lassen. Daran hatte sich gewiss nichts geändert.
»Ich werde ihr erzählen, dass ihre Liebe noch immer Früchte trägt und dass ich alles getan habe, um Vergebung für Victoria zu erlangen. Die Toten wissen, welche Schuld die Menschen auf sich geladen haben …«
Ein Hustenanfall brachte die Geräte dazu, alarmiert zu piepen. Erschrocken wich Diana zurück und wollte schon nach der Schwester rufen, doch da normalisierte sich alles von allein wieder.
Stöhnend sank Emmely in die Kissen zurück. »Ein Geheimnis überschattet unsere Familie. Eines, das Grace nicht kannte.« Als sie die Augen wieder öffnete, wirkte ihr Blick entrückt, als könnte sie in der Ferne die noch vor dem Krieg Verstorbene bereits
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