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Die Schmetterlingsinsel

Die Schmetterlingsinsel

Titel: Die Schmetterlingsinsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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mutmaßlichen Abschrift des Palmblattes, das Grace in ihrer Niederschrift erwähnt hatte, hatte sie auch die letzten Puzzleteile zusammen. Alles, was möglich war, um die Geschichte zu rekonstruieren.
    Diana beschloss, die beiden Fundstücke mitzunehmen, zu verwahren für spätere Generationen – so es diese geben sollte. Aber sie war hoffnungsvoll. Die Scheidung von ihr und Philipp lief, ihr Glück mit Jonathan war vollkommen, und alles andere würde sich zeigen, auch ohne eine Prophezeiung.

Indischer Ozean, 1887
    Auf hoher See wusste Grace bald nicht mehr, ob ihre Übelkeit von der Schwangerschaft herrührte oder von der Seekrankheit, die hier viele befiel. Der Winter war keine gute Zeit zum Reisen, häufig kam es zu Stürmen, doch wenn sie erst einmal den Suez-Kanal durchquert hatten, würde das Klima besser werden, und bis nach England war es dann nicht mehr weit.
    Grace war es egal. Egal, ob sie fror oder schwitzte, egal, ob sie lebte oder starb. Hin und wieder überkam sie das tiefe Verlangen nach der Finsternis. Doch dann brach der Gedanke an ihr Kind wie ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und sie wusste auf einmal, dass sie leben wollte. Leben für ihr Kind, leben für die Hoffnung, ihren Geliebten irgendwann einmal wiederzusehen.
    In diesen Momenten kramte sie den Zettel hervor, den sie in der Palmblattbibliothek von dem alten Mann erhalten hatte.
    Hör auf dein Herz, hatte er ihr gesagt. Hatte sie das Unglück abwenden können, indem sie ihm gefolgt war? Mit ­ihrer Schwangerschaft war das größte Unglück hereingebrochen, das ihre Eltern sich vorstellen konnten. Doch sie hatte die große Liebe erleben dürfen …
    »Ich glaube, es gibt einen neuen Sturm«, bemerkte Miss Giles unruhig. Die Zeit auf See hatte aus ihr ein Nervenbündel gemacht. Meist brütete sie schweigend in ihrer Ecke der Kajüte und sprach nur das Nötigste mit ihrem Schützling, nicht, weil sie ihr zürnte, sondern aus schlechtem Gewissen heraus, da war sich Grace sicher.
    Eigentlich geschah es ihr ganz recht, dass sie von Mr Norris getrennt wurde, hatte Grace besonders in der ersten Zeit grimmig gedacht. Immerhin war sie es, die Vikrama als Vater ihres Kindes entlarvt hatte, indem sie bei Victoria herumgeschnüffelt und das Heft mit den geheimen Aufzeichnungen ihrem Vater zugespielt hatte. Beim Betreten des Schiffes hätte sie die Gouvernante nur zu gern über die Reling geworfen.
    Doch die Zeit auf See hatte sie nachdenklich gemacht. Nur zu gut konnte Grace nachfühlen, wie Miss Giles zumute war. Die Hoffnung, dass der Herr sie zurückholen würde, weil er sie für die Betreuung von Miss Victoria brauchte, war das Einzige, woran sie sich klammerte. Eine kleine Hoffnung, denn eher würde sie für die Betreuung des Babys gebraucht. Des ­Babys, das einen Skandal auslösen würde. Ein Baby, das man der Mutter vielleicht wegnehmen würde, um die Fassade zu wahren.
    Grace versuchte also, ihren Groll zu vergessen, und wenn sie spürte, dass Miss Giles ihrem Lehrer nachtrauerte, tröstete sie sie damit, dass er sicher eines Tages zu ihr käme und sie heiraten würde.
    Genauso, wie sie hoffte, nach Ceylon zurückzukehren. Allerdings nahm diese Hoffnung mit jeder Seemeile ein wenig ab, und Angst um ihren Liebsten machte sich in ihr breit. Wenn Vikrama an seinem Leben hing, würde er Vannattuppuc c i fernbleiben. Sie betete inständig dafür, dass sein mutiges Herz ihn nicht zu einer Dummheit verleitete, die er auf ewig bereuen würde. Und sie hoffte, dass das Schicksal sie auf andere Weise wieder zusammenführen würde.
    Als der Sturm über das Schiff hereinbrach, zweifelte Grace kurz an der Macht des Palmblatts. Vielleicht irrte es, indem es ihr noch 43 Lebensjahre versprach. Woher sollten die Brah ­manen wissen, welche Unbilden einem Menschen begegnen würden? Das Unwetter, das wesentlich schwerer ausfiel als jene zuvor, brachte das Schiff an den Rand des Sinkens. ­Panik brach aus, alles ging drunter und drüber. Als sie an Deck angekommen waren, schwappte ein riesiger Brecher über sie hinweg. Grace hörte einen Schrei, dann war Miss Giles plötzlich verschwunden. Bevor sie herausfinden konnte, wohin, rissen Hände sie zur Seite, und irgendwie gelangte sie in ein Rettungsboot.
    Eine Decke wurde über ihre Schultern gelegt, und Stimmen wirbelten aufgeregt um sie herum. Feuchte, eisige Böen bissen in ihre Wangen, doch sie achtete nicht darauf. Ihre Gedanken waren bei dem Zettel, und sie wusste nun, dass alles so kommen würde, wie

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